Die vor rund zwei Jahren angekündigte digitale Revolution in der Augenheilkunde ist jetzt klinische Realität geworden: Seit Mitte des Jahres ist es an der MedUni Wien bzw. im AKH Wien möglich, mit einer automatischen, digitalen Netzhautuntersuchung und ohne Hilfe von AugenärztInnen eine diabetische Netzhaut-Erkrankung zu erkennen. „Der Roboter macht den Befund ganz alleine“, so Ursula Schmidt-Erfurth, Leiterin der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie der Medizinischen Universität Wien und des AKH Wien.
Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) bei Netzhautuntersuchungen
„Weltweit gibt es 420 Millionen Menschen, die an Diabetes leiden, aber nur rund 15 Prozent gehen so rechtzeitig zum Augenarzt, dass bleibende Schäden mit schwerem Sehverlust vermieden werden können“, erläutert Schmidt-Erfurth. „Netzhautschädigungen sind weltweit die häufigste Ursache für irreversible Sehbehinderungen bei Menschen im erwerbstätigen Alter. 75 Prozent Prozent aller Diabetikerinnen und Diabetiker erleiden langfristig einen derartigen Schaden.“
Faktenbox: Rund 190 Millionen Menschen weltweit leiden an der altersbedingten Makula-Degeneration, rund 170 Millionen haben eine diabetische Netzhauterkrankung, Dunkelziffer und Tendenz steigend.
Nun gibt es eine Künstliche-Intelligenz-Lösung, die kostengünstig und effizient dafür sorgt, dass diese Früherkennung bereits in der allgemeinen medizinischen Routine stattfindet: Eine Roboter-Kamera, die nicht größer als eine Kaffeemaschine ist, ist unter der Leitung der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie in drei diabetologischen Abteilungen – an der MedUni Wien bzw. im AKH Wien, in der Rudolfstiftung und im Kaiser-Franz-Josef-Spital – im Einsatz. Diese diagnostiziert binnen weniger Minuten, ob bei DiabetikerInnen bereits eine Schädigung der Netzhaut vorliegt, die behandelt werden muss.
„Dazu ist keine Ärztin bzw. kein Arzt nötig. Die Patientinnen und Patienten setzen sich vor die Kamera und fünf Minuten später kommt der Befund aus dem Drucker„, informiert Schmidt-Erfurth, die auch das Christian Doppler Labor für künstliche Intelligenz am Auge leitet. „Der Roboter gibt ganz eindeutig an, ob aktuell keine Schädigung, eine moderate oder eine, die unbedingt behandelt werden muss, vorliegt und bahnt den direkten Weg zum Augenarzt.“
Einziges weltweit zugelassenes Komplettsystem
Alle drei in Wien im Einsatz befindlichen Geräte sind Teil der Kooperation der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie mit ihren internationalen KI-Partnern. Das dabei eingesetzte IDx-DR-System wurde an der Universität von Iowa in den USA im Rahmen eines Spin-off-Unternehmens entwickelt und ist das einzige weltweit zugelassene und daher sichere Komplettsystem.
„Mit zwei Millionen Pixel bzw. Datenpunkten wird ein extrem scharfes Bild der Netzhaut aufgenommen und die Daten digital abgeglichen„, erklärt Andreas Pollreisz, Netzhaut-Experte der MedUni Wien bzw. des AKH Wien. Anhand dieses Fundusfotos werden anatomisch relevante Strukturen wie Makula, Sehnerv oder Blutgefäße von einem Algorithmus identifiziert und die gesamte Bildaufnahme auf pathologische diabetesbedingte Veränderungen untersucht.
Charakteristische Diabetesmerkmale sind Mikroaneurysmen, dh winzige Aussackungen an feinen Blutgefäßen, Blutungen innerhalb der Netzhautschichten, harte Exsudate, sprich Ablagerung von Fettstoffen in der Netzhaut, oder Gefäßneubildungen auf der Netzhaut – ein Zeichen für ein bereits weit fortgeschrittenes Stadium der diabetischen Retinopathie.
Das IDx-DR-System ermittelt innerhalb von Minuten automatisch die Bildqualität, sowie das Vorhandensein einer diabetischen Netzhautveränderung. Bei rund fünf Prozent der PatientInnen werden bereits deutliche Schädigungen nachgewiesen, obwohl die PatientInnen noch keine Symptome haben. Bei moderaten Befunden – ca. 15 Prozent der symptomlosen DiabetikerInnen – ist eine weitere, ständige Beobachtung nötig, die ebenfalls vom Roboter erkannt wird.
Mit freiem Auge nicht mehr erkennbar
Internationale Studien haben gezeigt, dass die Künstliche Intelligenz in der Diagnostik mit ihren exakten Algorithmen genauer und schneller ist als die Fachfrau bzw. der Fachmann. Schmidt-Erfurth: „Das, was hier analysiert wird, kann der Experte mit freiem Auge nicht mehr erkennen.“
Am Ende der diagnostischen Kette steht dennoch die Ärztin bzw. der Arzt: Nur diese können anhand des Bildes einschätzen, welcher Behandlungsschritt folglich nötig ist und gegebenenfalls die Operation durchführen – ganz individuell im Sinn der Präzisionsmedizin. Zugleich werden aber alle positiven Befunde und auch jene, wo es kein Ergebnis gab – etwa wegen eines vorgelagerten Grauen Stars – im Vienna Reading Center der MedUni Wien wissenschaftlich kontrolliert.
„Der Roboter entscheidet sich im Zweifelsfall eher zu einem falsch positiven Ergebnis, damit geht der Patient zum Augenarzt und erhält in jedem Fall eine sichere Diagnostik. Bei der Anwendung von IDx-DR bei den ersten 450 Patienten konnten wir nur einen einzigen Fall identifizieren, wo ein Arzt eine genauere Diagnostik vorgeschlagen hätte als der Computer. Bei den anderen 449 Patienten war IDx-DR korrekt oder übergenau,“ erklärt Bianca Gerendas.
Ersetzt Künstliche Intelligenz bald unsere ÄrztInnen?
IDx-DR ist eines der ersten Beispiele für funktionierende künstliche Intelligenz, die ÄrztInnen im Arbeitsalltag unterstützen kann. Dennoch birgt jeder Einsatz von KI auch Risiken. Ein Computer kann nur das diagnostizieren, was man ihm beigebracht hat: Wurde er zur Diagnose von diabetischer Retinopathie trainiert, dann wird er eine Netzhautablösung oder eine altersbedingte Makula-Degeneration nicht erkennen.
„Aus diesem Grund ist es wichtig, solche Geräte nur streng in ihrem Zulassungsbereich einzusetzen, genau wie man es auch bei Medikamenten macht.“ Klinikleiterin Schmidt-Erfurth warnt gleichzeitig vor unseriösen Screening-Angeboten im Internet oder als Apps. „Das IDx-DR-System ist das weltweit einzige, das zugelassen und durch große Studien abgesichert ist. Nur mit solchen Komplettsystemen gibt es eine diagnostische Sicherheit.“
(Bilder: MedUni Wien/ Marko Kovic)