Dass Österreichs Pflegesystem dringend reformbedürftig ist, wird von niemandem mehr bestritten. Zu knappe Personalbemessung und schlechte Rahmen- und Arbeitsbedingungen machen den Beschäftigen zu schaffen und führen zu hohen Ausstiegsraten in den Pflegeberufen. Außerdem machen sie es den Pflegekräften auch trotz aufopfernden Engagements sehr schwer, eine menschenwürdige Betreuung der zu Pflegenden sicherzustellen. Volksanwalt Mag. Bernhard Achitz und die beiden AK-Präsidenten Dr. Johann Kalliauer [OÖ] und Erwin Zangerl [Tirol] haben gemeinsam Vorschläge zur Verbesserung der Pflegesituation in Österreich präsentiert.
Steht Personal unter Zeitdruck, steigt Risiko für Menschenrechtsverletzungen
„Die Volksanwaltschaft kontrolliert jedes Jahr hunderte Einrichtungen, in denen Pflegebedürftige oder Menschen mit Behinderung leben – und regelmäßig stoßen wir dabei auf Menschenrechtsverletzungen„, sagt Volksanwalt Bernhard Achitz: „In den allermeisten Fällen ist offensichtlich: Das Pflegepersonal tut sein Bestes, aber die Rahmenbedingungen machen ganzheitliche, aktivierende und integrierte Pflege und Betreuung schwierig bis unmöglich.“
Beispiele für Probleme durch zu wenig Pflegepersonal
Ruhigstellung durch Medikamente, Einsperren, Freiheitsentzug durch schwer zu öffnende Türen oder Liftsperren, Mangelernährung oder Dehydration, Abendessen schon am Nachmittag, vorzeitige Nachtruhe, fehlende Beschäftigungsangebote und fehlende Hygiene.
Verbesserungen sind etwa durch spätere Nachtruhe, flexible Essenszeiten, Abendprogramm auf den Stationen oder Begleitung in den Garten möglich. Dafür ist allerdings mehr Personal notwendig. Auch mehr Fortbildungen sind erforderlich, etwa zu Gewalt und Deeskalationsmanagement. „Klar ist: Menschenrechtsverletzungen müssen sofort beseitigt werden!“, fordert Achitz.
„Ausreichende finanzielle Mittel und entsprechend qualifiziertes Personal sind der Schlüssel für menschenwürdige Bedingungen. Steht das Personal unter Zeitdruck, steigt das Risiko für Menschenrechtsverletzungen, weil nur noch das Notwendigste erledigt werden kann,“ so der Volksanwalt. Damit ausreichend Menschen für den Pflegedienst gewonnen werden können, müssen die Bedingungen besser werden. Derzeit schaffen nur wenige, Vollzeit zu arbeiten: 70 Prozent arbeiten Teilzeit.
Personalberechnung muss an geänderte Pflegeaufgaben angepasst werden
„Pflege- und Betreuungskräfte erbringen 365 Tage im Jahr rund um die Uhr enorme Leistungen. Die Anforderungen an sie haben sich stark verändert und sind massiv gestiegen. Allerdings wurden die Berechnungsmodelle zur Personalausstattung dementsprechend seit den 1990er-Jahren nicht angepasst„, kritisiert AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer. Demenzarbeit, psychosoziale Begleitung und vieles mehr werden nicht berücksichtigt. Dies führt dazu, dass die Beschäftigten in der Pflege regelrecht ausbrennen und eine qualitätsvolle, ganzheitliche Pflege und Betreuung, die nicht nur die Grundpflege abdeckt, sondern die Beziehungspflege im Vordergrund sieht, kaum noch möglich ist.
Kalliauer fordert österreichweit verbindliche, transparente und einheitliche Personalberechnungsmodelle, 20 Prozent mehr Personal und eine stärkere Berücksichtigung von Demenz und psychosozialen Komponenten in der Personalberechnung. Nachtdienste beispielsweise sollten nicht mehr alleine betreut werden müssen. Für Kalliauer außerdem notwendig: „Ein klares Bekenntnis zur solidarischen und gerechten Finanzierung der Pflege, die eine Millionärssteuer inkludiert. Damit kann der Ausbau der öffentlichen Angebote rasch vorangetrieben werden.“
Nicht nur Jugendliche für Pflegeausbildung motivieren
Derzeit werden neue Ausbildungsformen für Pflegeberufe diskutiert oder bereits eingeführt. AK-Tirol-Präsident Erwin Zangerl begrüßt etwa die Ausbildung an der BMS/ BHS, „aber die Qualität muss erhalten bleiben. Deshalb ist es erforderlich, die derzeitigen Ausbildungsstunden in Theorie und Praxis beizubehalten und sehr kritisch darauf zu achten, wie diese Projekte umgesetzt werden.“ Keine Lösung sei die Pflegelehre: „Die Gefahr, dass die jungen Menschen als billige Lückenfüller ausgenützt werden, dass sie überfordert und ‚verbrannt‘ werden, ist zu groß.“
Die Politik darf sich nicht auf Jugendliche konzentrieren, wenn sie Interesse am Pflegeberuf wecken will. Auch Wieder- und QuereinsteigerInnen gilt es zu motivieren. Für jede Zielgruppe bedarf es eigener Strategien und Angebote – „von speziellen Deutschkursen, Kinderbetreuung, Finanzierung bis hin zu Hilfestellungen beim Nostrifikationsverfahren [Anmerkung: die Anerkennung von ausländischen Schul-und Studienabschlüssen sowie akademischen Graden].“ Und man muss darüber nachdenken, Studiengebühren an Pflege-FHs abzuschaffen und Auszubildenden an Krankenpflegeschulen und Fachhochschulen, insbesondere im Praktikum, eine Entlohnung zukommen zu lassen. Zangerl: „Bei der Polizei gibt es ja auch schon während der Ausbildung mehr Geld als das in der Pflege übliche Taschengeld.“
Arbeitsbedingungen und Bezahlung in der Pflege sind miserabel
Pflegekräfte arbeiten unter äußerst belastenden Bedingungen, was dazu führt, dass gute Fachkräfte den Beruf nach kurzer Zeit wechseln. Neben dem Mangel an Pflegepersonal und den belastenden Bedingungen, kommt auch noch eine Lohnschere hinzu. In der Pflege verdienen Menschen im Schnitt 17 Prozent weniger. Dies wirkt sich auch auf die Angehörigen und die zu pflegenden Personen aus, die oft zurecht unzufrieden oder frustriert über die Pflegesituation sind.
Wir haben einen Pflegekräftemangel und wollen, dass mehr Menschen den Beruf ausüben, jedoch sind die Arbeitsbedingungen und Bezahlung miserabel. Dieses Ungleichgewicht heißt es anzugehen, denn Pflege ist mehr als nur das Nötigste zum Leben bereitstellen. Pflege bedeutet Gespräche, Beziehungen und Vertrauen. Dafür braucht es viel Zeit und Geduld, was jedoch in der Gesamtrechnung nie mit einbezogen wird.
Das Gesundheitsministerium kann das allein nicht stemmen. Dafür braucht es Solidarität und Zusammenarbeit von Bund, Ländern und der Politik. Damit die Unterschiede der Entlohnung und Arbeitszeit nicht zu groß sind und eine gemeinsame langfristige Strategie festgelegt wird.
Was passieren muss
Arbeiterkammer und Volksanwaltschaft sind sich einig, dass im Pflegebereich einiges passieren muss, Stichwort #Pflegereform. Konkret sind dabei die wichtigsten Punkte:
- Menschenrechtsverletzungen müssen sofort beseitigt werden!
- Die Einhaltung der Menschenrechte darf nicht am Budget scheitern.
- Die Betroffenen in den Pflegeeinrichtungen und das überlastete Personal haben keine Zeit, um jahrelange Pflegegipfel und Finanzierungsdebatten abzuwarten.
- Damit die Menschenrechte eingehalten werden und die BewohnerInnen der Pflegeeinrichtungen zufrieden sind, braucht es erstens mehr, zweitens gut ausgebildetes, und drittens zufriedenes und motiviertes Pflegepersonal.
Damit diese Punkte auch erreicht werden können, sollten im Detail folgende Empfehlungen berücksichtigt werden:
- Bundesweit einheitliche Zugangs- und Qualitätsanforderungen an Pflege und Betreuung in Langzeitpflegeeinrichtungen.
- Freiheitsbeschränkende Maßnahmen sind möglichst zu unterlassen.
- Nichtmedikamentöse Therapien bei Demenz. Demente BewohnerInnen müssen in ihrer Identität gestärkt, ihre Ressourcen aktiviert werden.
- Abendgestaltung für nicht schlafende und ruhelose demente BewohnerInnen.
- Mehr Aktivierungs- und Beschäftigungsangebote.
- Unübliche Essens- und frühe Schlafenszeiten vermeiden. Wünsche der BewohnerInnen bei Essenszeiten sowie ernährungswissenschaftliche Empfehlungen berücksichtigen [drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten; max. fünf Stunden zwischen Mahlzeiten; max. zwölf Stunden zwischen Abendessen und Frühstück].
- Zugang ins Freie täglich, auch für nicht mobile BewohnerInnen.
- Palliativ- und Hospizkonzepte implementieren.
- Zeit und Raum für multidisziplinäre Teamarbeit, Reflexion und Supervision – auch organisationsübergreifend.
- Regelmäßige Programme zur Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsförderung für das Personal.
- Transparenz und laufende Verbesserung unter Einbeziehung aller Beschäftigtengruppen.
- Einbeziehung aller Berufsgruppen und Hierarchieebenen in kontinuierliche Verbesserungsprozesse, Stichwort: Qualitätsmanagement.
- Klare und verbindliche Nachtdienstvorgaben – Nachtdienste generell mindestens nur mehr zu zweit, ab 100 Personen zu dritt, sowie Anwesenheit von zumindest einer Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegekraft oder einem/ einer PflegefachassistentIn
- Zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen wird die Planbarkeit und Verlässlichkeit der Arbeitszeit eingefordert.
- Gute Begleitung der Auszubildenden während des Praktikums durch den gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege.
- Unterstützung von MigrantInnen durch Deutschkurse, ev. Hilfestellungen im Rahmen des Nostrifikationsverfahrens.
- Keine Studiengebühren bei Ausbildung zum gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege an der Fachhochschule, sondern höhere Ausbildungsentschädigungen [Beispiel Polizei].
- Beibehaltung des Fachkräftestipendiums.
- Durchlässigkeit der Ausbildungen tatsächlich gewährleisten.
- Modelle für WiedereinsteigerInnen, QuereinsteigerInnen inkl. Kinderbetreuung, Finanzierung schaffen.
- Österreichweit verbindliche, transparente und einheitliche Personalberechnungsmodelle auf arbeits- und pflegewissenschaftlicher Basis mit verbundenen Sanktionen.
- Stärkere Berücksichtigung von Demenz und psychosozialer Komponenten in der Personalberechnung.
- Berücksichtigung der Beschäftigungsstruktur und der Ausfallszeiten bei der Dienstpostenberechnung.
- 20 Prozent mehr Personal in den Pflegeeinrichtungen.
- Beibehaltung der hohen Qualität in der Ausbildung.
- Klares Bekenntnis zur solidarischen und gerechten Finanzierung der Pflege, die eine Millionärssteuer inkludiert, um so eine Höherdotierung des Pflegefonds zu erwirken. Damit kann der Ausbau der öffentlichen Angebote rasch vorangetrieben werden.
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