Über das Krankheitsbild Diabetes wird hauptsächlich problemorientiert gesprochen. Besonders während der Spitze der Corona-Krise war immer wieder auch von der Risikogruppe der „schweren Diabetiker“ die Rede. Menschen mit Diabetes erleben häufig Stigmatisierung durch Verallgemeinerung von Stereotypen. Die Österreichische Diabetes Gesellschaft [ÖDG] betont daher, dass die meisten Menschen mit Diabetes ihr Leben gut meistern können. Fortschritte in medizinischer Forschung und Technik unterstützen sie dabei maßgeblich. Gleichzeitig fordert die ÖDG strukturelle Änderungen im österreichischen Gesundheitssystem, um allen rund 800.000 Menschen mit Diabetes diese Chance auf ein gutes Leben mit dieser Erkrankung zu bieten.
Die Covid-Pandemie hat darauf aufmerksam gemacht, dass Diabetes keine Lebensstilerkrankung, sondern eine ernstzunehmende Erkrankung ist. Plötzlich waren Menschen mit Diabetes als besonders vulnerable Gruppe im Zentrum der medialen Berichterstattung. Dabei kam es aber auch zu Verallgemeinerungen und Unschärfen, die auch bei den Betroffenen zu Verunsicherungen führten.
Es gibt keine „leichten oder schweren Diabetiker“
Univ. Prof.in Dr.in Susanne Kaser, Stv. Direktorin Universitätsklinik für Innere Medizin I der Medizinischen Universität Innsbruck und Präsidentin der ÖDG erklärt: „Es gibt keinen leichten oder schweren Diabetes. Jede Erkrankung birgt enorme Gefahren für die oder den Betroffenen. Es gibt einerseits Menschen, die gut versorgt sind und mit einer individuellen Behandlung ihre Werte perfekt im Griff haben. Und andererseits stirbt noch immer alle 50 Minuten in Österreich ein Mensch mit Diabetes an den Folgeerkrankungen. Das sind mehr als 10.000 Todesfälle pro Jahr von denen viele vermeidbar wären. Britische Daten zeigen, dass die Diagnose Diabetes mellitus Typ 2 für einen 40-jährigen Patienten die Lebenserwartung um fünf Jahre reduziert. Bei einer gleichaltrigen Patientin sind es sogar sechs Jahre.“
Positive Entwicklung trotz steigender Zahlen
Kaser führt aus: „Die Zahl der Erkrankten steigt exponentiell. Laut Schätzungen der WHO waren im Jahr 2004 130.000 Menschen in Österreich betroffen. Jetzt müssen wir mit rund 800.000 Menschen rechnen. Exaktere Daten als diese WHO-Schätzungen können wir für Österreich leider noch nicht bieten, da es bei uns kein Diabetes-Register zur genauen wissenschaftlichen Erhebung gibt. Glücklicherweise wurden in der Zeit der rasant steigenden Betroffenenzahlen auch die Behandlungsmöglichkeiten immer besser. Heute geht es uns darum jedem Menschen mit Diabetes Mut zu machen und zu sagen, dass ein positives, erfülltes Leben mit Diabetes möglich ist.“
Nicht ausbremsen lassen
Ein besonderes Beispiel dafür ist Markus Sauer, ein 29-jähriger begeisterter Hobby-Marathonläufer, der seit fünf Jahren mit Diabetes mellitus Typ 1 lebt: „Wichtig ist, dass man sich durch den Diabetes nicht ausbremsen lässt. Natürlich beeinflusst die Erkrankung mein Leben, aber ich kann selbstbestimmt alle Aspekte meines Lebens – Beruf, Freunde und vor allem auch mein Hobby – organisieren. Im Laufsport ist die Blutzuckerkontrolle ein wichtiges Thema. Ich habe bei den Marathon-Läufen in allen österreichischen Bundesländern viel über meinen Körper und seine Bedürfnisse gelernt! Ohne die Fortschritte in Technik und Medizin wäre das nicht möglich gewesen.“
Gutes Leben durch Therapie und Technik
Assoz.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Harald Sourij, Stv. Abteilungsleiter der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie an der Medizinischen Universität Graz und Erster Sekretär der ÖDG, informiert über medizinisch wissenschaftliche und technische Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte. Diese führen dazu, dass sich die Lebenssituation von Menschen mit Diabetes verbessert hat: „Die zentralen Verbesserungen für Menschen mit Diabetes beziehen sich auf die Blutzuckerkontrolle und die Verhinderung von Folgeerkrankungen. Die Blutzuckerkontrolle ist durch Innovationen in Wissenschaft und Technik einfacher und komfortabler zu erreichen, welche auch helfen, Nebenwirkungen, wie den gefährlichen Unterzucker, zu reduzieren. Gleichzeitig können neue Medikamente Folgeerkrankungen wie Herzinfarkte, Schlaganfälle und Nierenkomplikationen senken. Sogar die gesamt Überlebenszeit kann durch diese Fortschritte deutlich gesteigert werden.“
Sourij zeigt aber auch auf, dass strukturelle Voraussetzungen nötig sind, um den Zugang zu diesen Innovationen zu ermöglichen: „Aktuelle internationale Daten zeigen aber, dass knapp zwei Drittel jener Patientinnen und Patienten, die von neuen Therapien profitieren könnten, diese noch nicht erhalten.“
„Menschen mit Diabetes“ statt „Diabetiker“
Karin Duderstadt, die Geschäftsführerin von „wir sind diabetes„, der Dachorganisation der Diabetes Selbsthilfe Österreichs, betont die Wirkung von Zuschreibungen und Begriffen auf die Lebensrealität von Menschen: „Ein Mensch mit einer chronischen Krankheit, die ihn ein ganzes Leben lang begleiten wird, muss mit dieser Erkrankung leben lernen. Das wird nicht leichter, wenn die Person gleichzeitig mit der Diagnose auf die Krankheit reduziert wird, in unserem Fall zum Diabetiker oder zur Diabetikerin wird. Man kann das als Spitzfindigkeit sehen, jedoch schafft Sprache oftmals Wirklichkeit. Und darum ist es uns von „wir sind diabetes“ auch so wichtig, die Macht der Sprache zu erkennen und nicht von „Diabetikern“ zu sprechen und zu schreiben, sondern von „Menschen mit Diabetes“.
Der Mensch muss im Vordergrund stehen und nicht die Erkrankung. Gerade die Debatte um die Klassifizierung der Corona-Risikogruppen hat gezeigt, dass man Menschen nicht auf ihre Erkrankung reduzieren kann. Es geht nicht nur darum, wie man als Behörde die Gesundheitsrisiken einzelner Bevölkerungsgruppen am effizientesten administriert, sondern um die Sorge vieler Betroffenen vor Stigmatisierung und nicht zuletzt auch um ihren Arbeitsplatz.“
Diabetes positiv – Versorgungssicherheit für alle Menschen mit Diabetes
Menschen mit Diabetes wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und ihre Erkrankung im Griff haben. Darum fordert ÖDG Präsidentin Kaser: „Nicht die Erkrankung darf den Alltag bestimmen, sie muss sich in den Alltag der Menschen integrieren lassen. Dafür ist genau darauf zu achten, dass auch der Zugang zu den medizinischen und technischen Innovationen für jeden Menschen mit Diabetes möglich ist.“
Dazu fordert die ÖDG den flächendeckenden Ausbau und die Adaptierung des Disease Management Programms „Therapie Aktiv“. Weiters fordert sie eine Praxis bei der Bezahlung von Arzneimitteln und Heilbehelfen, die den evidenzbasierten Behandlungsleitlinien folgt. Zusätzlich ist ein österreichweites Diabetes Register notwendig, um die Versorgungsplanung für alle Menschen mit Diabetes auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen.
Österreichische Diabetes Gesellschaft [ÖDG]
Die Österreichische Diabetes Gesellschaft [ÖDG] ist die ärztlich-wissenschaftliche Fachgesellschaft der österreichischen Diabetes-Expertinnen und -Experten. Ordentliche Mitglieder der Gesellschaft sind Ärztinnen und Ärzte und wissenschaftlich einschlägig orientierte Akademiker*innen. Assoziierte Mitglieder sind Diabetesberater*innen und Diätolog*innen.
Die Österreichische Diabetes Gesellschaft sieht es als ihre Aufgabe, die Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit Diabetes mellitus zu verbessern. Sie setzt sich daher für die Anliegen der Betroffenen ein. Sie fordert und fördert die stetige Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Diabetes mellitus. Sie unterstützt die Forschung und verbreitet wissenschaftliche Erkenntnisse aller den Diabetes berührenden Fachgebiete sowohl zur Verbesserung der medizinischen Betreuung als auch zur bestmöglichen Vorbeugung von Neuerkrankungen.
Informationen über die Aktivitäten der ÖDG finden sie HIER.
(Bilder: Pixabay.com, ÖDG – Österr. Diabetes Gesellschaft/ APA-Fotoservice/ Rastegar)