Für eine zukunftsorientierte und ganzheitliche Versorgung auf hohem Qualitätsniveau sehen Expertinnen und Experten als wesentlich, die sich verändernden Lebenswelten mitzudenken. Ein Gesundheitssystem, das den Menschen in den Fokus stellt, sollte in erster Linie an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten ausgerichtet sein und nicht systemorientiert agieren. „Um ein gelungenes Gesundheitssystem im Sinne der Patientinnen und Patienten weiterzuentwickeln, ist es essenziell, Partikularinteressen der Stakeholder hintanzustellen und systemgetriebenen Einzelentscheidungen zukünftig eine bessere Kooperationsbasis zu geben“, betont PRAEVENIRE Präsident Dr. Hans Jörg Schelling.
Die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen müssten laut Schelling in einer Form aufeinander abgestimmt werden, die den Menschen den richtigen Weg zu präventiven, therapeutischen und regenerativen Lösungen aufbereitet. Laut Dr. Sigrid Pilz, Wiener Pflege- und Patientenanwältin, müsse Patientenorientierung im österreichischen Gesundheitssystem auf die bestmögliche Betreuung der Patientinnen und Patienten ausgerichtet sein, die auf deren Wohl und Bedürfnisse abzielt. „Patientenorientierung muss der zentrale Punkt in der Ausrichtung des Gesundheitssystems sein, damit Patientinnen und Patienten optimal versorgt werden können. Das ist nur möglich, wenn das Gesundheitssystem sich strukturell, organisatorisch und personell an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert,“ präzisiert Pilz.
Um ein leistungsstarkes, finanzierbares und menschliches Gesundheitssystem zu etablieren, welches die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellt, empfiehlt die PRAEVENIRE Initiative Gesundheit 2030 folgende drei Optimierungsprogramme mit konkreten Handlungsempfehlungen als Sofortmaßnahmen:
Gesundheitsversorgung im Einklang mit veränderten Lebenswelten
Zur breiteren Verwendung von e-Rezept und e-Medikation [ELGA] müssen rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um zum einen den Autonomiebestrebungen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden und zum anderen das Gesundheitssystem zu entlasten. Zudem muss die Verfügbarkeit der medizinischen Angebote an reale Lebenskonzepte der Menschen sowie an gewohnte Öffnungszeiten aus Betrieben des Alltags angepasst werden. Das wird nicht ausschließlich von Einzelordinationen abgedeckt werden können. Um zu verhindern, dass Patientinnen und Patienten nicht in erster Linie die Spitalsambulanzen aufsuchen, muss das vertragsärztliche Angebot im niedergelassenen Bereich ausreichend gegeben und der Schwerpunkt auf den Ausbau von Primärversorgungszentren gerichtet sein.
Um gezielter auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingehen zu können, müssen Patientenvertreter*innen und Selbsthilfegruppen intensiver in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Erfahrungen von Betroffenen sind essenziell und tragen stark zur Aufklärung über das alltägliche Leben mit einer bestimmten Erkrankung bei. „Es ist wichtig, dass nicht nur die Appelle und die Wahrnehmung von Expertinnen und Experten in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch Methoden und Werkzeuge professionalisiert werden, um die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten zu erheben. Dadurch ließe sich die Outcome-Qualität aus Patientensicht evaluieren und in eine Optimierung des Gesundheitssystems miteinbeziehen,“ betont Dr. Gerald Bachinger, NÖ Patienten- und Pflegeanwalt.
„Für eine Stärkung der Eigenverantwortung benötigen Patientinnen und Patienten ausreichend Gesundheitswissen, um mündig Entscheidungen treffen zu können. Den Patientinnen und Patienten soll zudem ermöglicht werden, Informationen zu verstehen, so dass sie selbst sachlich und fachlich richtige Entscheidungen treffen können,“ so Bachinger. Die PRAEVENIRE Initiative Gesundheit 2030 fordert in diesem Zusammenhang den Ausbau barrierefreier Informationsaufbereitung, um Chancengleichheit herzustellen.
Gesundheitssystem: Qualität vor Quantität
Das österreichische Gesundheitssystem verfügt derzeit über keine einheitliche Qualitätsmessung. PRAEVENIRE fordert daher die Etablierung unabhängiger Qualitätskriterien zur Bewertung von Dienstleistungsangeboten im Gesundheitswesen. Dabei soll nicht nur die Anzahl durchgeführter Operationen, sondern insbesondere die Qualität der Operationen öffentlich im Sinne einer „qualifizierten Transparenz“ zugänglich gemacht werden. Angesichts sehr langer Wartezeiten auf Operationen und Facharzttermine fordert die PRAEVENIRE Initiative Gesundheit 2030 eine bundesländerweite Harmonisierung der derzeit unterschiedlichen Gesetzesgrundlagen für die Veröffentlichung von OP-Wartezeiten. Eine österreichweite verpflichtende OP-Liste soll hier Abhilfe schaffen.
Die Honorierungssysteme bzw. die finanziellen Anreize müssen im intra- als auch extramuralen Bereich vollständig auf Anreize zu weniger Quantität und mehr Qualität umgestellt werden. Diese „value based“ Honorierungssysteme setzen eine umfassende und lückenlose Ergebnisqualitätsmessung und Transparenz voraus. Es wird im niedergelassenen Bereich zwar festgehalten, wer, was, womit und für wen, aber nicht das Warum – die Diagnose – dokumentiert. Schnittstellen zwischen extra- und intramuralem Bereich bzw. zwischen stationärem Bereich und Pflegediensten müssen optimiert werden. Es mangelt auch an einer nahtlosen Übergangslösung für die Zeit nach einer Entlassung aus dem Akutkrankenhaus und dem Rehabilitationsaufenthalt.
Gesunde Lebensentwürfe brauchen ganzheitliche Blickwinkel
40 Prozent der Zuerkennungen für Rehabilitationsgeld sind auf psychosoziale Erkrankungen zurückzuführen. Die Versorgung zeigt sich derzeit nicht ausreichend und verlangt höhere Investitionen in psychosoziale Angebote. Die PRAEVENIRE Initiative Gesundheit 2030 empfiehlt, Psychotherapie als Sachleistung auf Krankenschein zu etablieren. Durch die Gleichstellung der Psychotherapie mit anderen Behandlungen im Gesundheitssystem kann der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen entgegengewirkt und präventiver gehandelt werden.
Gesundheitsberufe-Angehörige [Health Care Professionals, HCPs] und Medizinerinnen und Mediziner müssen hinsichtlich psychosozialer Thematiken verstärkt sensibilisiert werden, um rechtzeitig interagieren zu können. Insbesondere im Bereich Kinder und Jugendliche sowie hoch belasteter pflegender Angehöriger muss ein bedarfsgerechter Ausbau der psychosozialen Versorgung sichergestellt sein.
Ist von Patientenorientierung die Rede, müssen laut Markus Wieser, Obmann Förderverein Kinder- und Jugendlichenrehabilitation, auch die speziellen Bedürfnisse von Kindern stets mitbedacht werden: „Man muss sich bewusst werden, dass Kinder keine jungen Erwachsenen sind. Kinder brauchen eine eigene kindgerechte Rehabilitation. Rehabilitation für Kinder und Jugendliche sowie deren Familien umfasst die gesamte Betreuung und muss gezielt auf die individuellen Bedürfnisse und Besonderheiten eingehen. Dazu zählt neben einer altersgerechten Rehabilitation auch eine altersgerechte Kinderbetreuung durch ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen. Zudem muss ein wichtiges Augenmerk auf die schulische Betreuung durch entsprechend ausgebildete Lehrkräfte gewährleistet sein, jeweils alters- und schultyp-abhängig,“ betont Wieser.
PRAEVENIRE Weißbuch „Zukunft der Gesundheitsversorgung“
Gemeinsam mit mehr als 500 Gesundheitsexpertinnen und –experten erarbeitete PRAEVENIRE Präsident Dr. Hans Jörg Schelling neue Lösungsmodelle für das österreichische Gesundheitssystem. Im Fokus des Weißbuches steht die Entwicklung einer Strategie, wie ein modernes und krisenfestes Gesundheitssystem für die österreichische Bevölkerung erhalten und auf ein nächstes Level transferiert werden kann.
Weiterführende Informationen zum Weißbuch-Themenkreis „Patientenorientierung“ finden sie HIER.
(Bilder: Pixabay.com, Peter Provaznik, Oreste Schaller, Peter Provaznik, Vyhnalek, Pixabay.com)