Im Rahmen der „Runde der Regionen“ luden die Regionalmedien Austria [RMA] gemeinsam mit dem Magazin „Hausarzt“ zu einer Expertendiskussion zum Thema „Pflegenotstand“ ein. Die Gäste: Mag. Anna Parr, Generalsekretärin Caritas Österreich, Mag. Elisabeth Potzmann, Präsidentin Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverband [ÖGKV], Robert Pozdena, Geschäftsführer cura domo, Michael Buchner, MAS Alzheimerhilfe. Moderiert wurde die Runde von RMA-Chefredakteurin Mag. Maria Jelenko-Benedikt und „Hausarzt“-Chefredakteurin Mag. Karin Martin.
Fazit: Die Corona-Krise hat die Schwächen unseres Pflege- und Betreuungssystems wie ein Brennglas vergrößert, darüber waren sich die Expert*innen einig. Es braucht mehr Geld, Personal, Ausbildung und Unterstützung für pflegende Angehörige. Und: Will man den drohenden Pflegenotstand abwenden, müssen sich auch mehr Männer für den Beruf begeistern. Oder [anders] auf den Punkt gebracht: Es muss sexy werden, in die Pflege zu gehen.
Pandemie macht Probleme in der Pflege noch deutlicher
Immerhin acht von zehn Angehörigen arbeiten in der Pflege. Sie seien „in der Krise an die Belastungsgrenzen gekommen“, betonte Michael Buchner von der MAS Alzheimerhilfe. Bei den zu Pflegenden sei es häufig zu einer Vereinsamung gekommen. Für Betroffene habe es kaum Entlastungsangebote gegeben, weil alle Stellen ihre Programme nur sehr begrenzt anbieten konnten. „Wir sehen einen Mangel an Geld, an Personal und an Ausbildung,“ so Buchner.
Wie durch ein Brennglas habe man die Probleme durch die Pandemie plötzlich noch deutlicher gesehen, verdeutlichte Caritas-Generalsekretärin Anna Parr. „Wir haben den enormen Betreuungswert, den diese Betreuerinnen übernehmen, wahrgenommen und auch unsere Abhängigkeit von ausländischen Kräften.“ Pflegende Angehörige seien in der erster Phase der Pandemie extrem belastet gewesen. Das bestätigten 78 Prozent im Rahmen einer Studie der Volkshilfe, 16 Prozent mussten ihre Erwerbsstunden reduzieren, um die Situation zu bewältigen, erläuterte Parr.
Häusliche Betreuung vs. Pflege
Für Robert Pozdena hat die Pandemie die 24-Stunden-Betreuung als wichtigen Baustein in der Pflege verdeutlicht: „Die 24-Stunden Betreuung ist jetzt in ein besserer Licht gerückt. In der Pandemie hat man gesehen, dass die Betreuung zu Hause natürlich auch das geringste Infektionsrisiko hatte,“ so der Geschäftsführer cura domo.
Die 24-Stunden-Personen Betreuung unterliege gemäß der Gewerbeordnung dem Hausbetreuungsgesetz und dürfe gewisse Assistenzdiensleistungen machen, so Pozdena. „Wir brauchen dringend die Zusammenarbeit mit der Fachgruppe Pflege und können die Pflege wiederum ressourcentechnisch entlasten.“ Ziel sei es, dass Menschen so lange wie möglich zu Hause leben können, bestätigte auch Parr. Das sei der Wunsch der Mehrheit. „Es ist ein Übergang, bis eine Pflegesituation entsteht“, so Parr, die betonte, dass es eine Kooperation verschiedener Formen der Pflege brauche.
Gehalt für Angehörige? Kritisch
Die Hauptfinanzierung liege aber innerhalb der Familie, „das Land trägt die Kosten nicht im vollen Umfang,“ erklärte Mag. Elisabeth Potzmann, Präsidentin ÖGKV. Ein Gehalt für pflegende Angehörige sieht sie kritisch, denn dadurch steige auch der Druck. Fast 100 Prozent der pflegenden Angehörigen geben aber auch finanzielle Belastungen an, so Potzmann. Das Thema müsse man also sehr wohl diskutieren.
Eine Versicherung des Bundes für pflegende Angehörige gebe es zwar, sie endet aber ab dem 60. Lebensjahr. Mehr als ein Drittel der pflegenden Angehörigen fallen in die Altersgruppe 60 Plus, erklärte Potzmann, die eine Absicherung für diese Menschen über 60 Jahre hinaus befürwortet.
Pflege nicht auf Frauen „abwälzen“
Kritisch sieht Potzmann auch, dass man ab einer gewissen Pflegegeldstufe nicht verpflichtend professionelle Pflege in Anspruch nehmen muss. „Es ist mir zu wenig, das auf betreuende Angehörige und in der Regel dann Frauen abzuwälzen„. Tatsächlich seien es zu 95 Prozent Frauen, die in der Pflege tätig sind. In der Familien liege die Last der Pflege meist auf ihnen.
„Wir brauchen laut einer Studie der Gesundheit Österreich bis 2030 mehr als 75.000 ausgebildete Menschen am Arbeitsmarkt, um dem steigenden Bedarf in der Pflege bewältigen zu können,“ rechnete Parr vor. Sie denkt, dass es mehr Gespräche über die vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten in der Pflege brauche. „Ich glaube, dass wir Rollmodels brauchen, die darüber sprechen, dass es auch für Männer ein toller Beruf ist,“ so Parr. Zudem brauche es bundesweit kostenlose Ausbildungsstätten.
„Es ist fünf nach zwölf“
Für Parr braucht es einen flächendeckenden Ausbau der Angebote: Beratung, mobile Dienste, Tageszentren und Pflegeeinrichtungen. Langfristig sei eine Personaloffensive notwendig: „Es ist fünf nach zwölf,“ betonte die Generalsekretärin der Caritas. Der Rechnungshof habe letztes Jahr dazu einen Bericht veröffentlicht. „Derzeit ist das Verhältnis der Altersgruppe zwischen 50 und 65, die zu Pflegende betreuen könnten, vier zu eins. Im Jahr 2060 ist das Verhältnis eins zu eins.“ Auf das müsse man sich vorbereiten, so Parr, die einen Ausbau zeitlich flexibler Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige fordert, die auch finanziell leistbar sind.
Pozdena ist die Attraktivierung des Jobs ein Anliegen: „Es muss sexy sein in die Pflege zu gehen.“ So, wie man versuche, Frauen in technische Berufe zu bringen, müsse man Männer für die Pflege begeistern. „Es ist ein toller, dankbarer Job.“ Durch eine bessere Verzahnung zwischen Betreuung und Pflege könne man 24-Stunden Pfleger sowie Angehörige entlasten.
Expertendiskussion zum Nachschauen
Alle, die die Diskussion der Expert*innen nachschauen möchten, finden HIER das Video dazu.
(Bilder: Pexels/ Andrea Piacquadio, Pixabay.com (2x))