„Es freut mich besonders, dass die politisch Verantwortlichen in Österreich dank unserer Beharrlichkeit das Thema Schmerz ernst nehmen und die Kooperation mit der Österreichische Schmerzgesellschaft [ÖSG] und unseren Expertinnen und Experten suchen. Selbst in die Strukturplanung werden wir miteinbezogen“, betont ÖSG-Präsidentin Dr.in Waltraud Stromer [Landesklinikum Horn].
„Jetzt geht es darum, unsere hohen Qualitätsstandards auch tatsächlich bei den Patientinnen und Patienten ankommen zu lassen und auf allen Ebenen der Strukturplanung zu berücksichtigen. Gemeinsam mit der Gesundheit Österreich GmbH arbeiten wir an der Darstellung der interdisziplinären Schmerzversorgung unter Berücksichtigung des Qualitätsstandards Rückenschmerz im Österreichischen Strukturplan Gesundheit.“
Zukunft der Schmerzmedizin: Rising Stars – The Next Generation
Im aktuellem Umfeld betrachtet es die Österreichische Schmerzgesellschaft als ihre Pflicht, frühzeitig künftige Generationen an Schmerzmedizinerinnen und -mediziner auszubilden. 2023 werden wir zielgerichtet daran arbeiten, noch mehr Jungärztinnen und -ärzte für die Schmerzmedizin zu begeistern. Eine erste Fortbildungsveranstaltung mit dem Titel „Zukunft der Schmerzmedizin: Rising Stars – The Next Generation“ findet Anfang März 2023 in Linz statt [Online-Anmeldung unter: www.bit.ly/RisingStars2023].
Zum Hintergrund: Die „Ärztestatistik für Österreich zum 31. 12. 2021“ der Österreichischen Ärztekammer nennt Pensionierungszahlen in einzelnen Fächern bis 2027 im Ausmaß von bis zu 66,7 Prozent. Bereits zum Stichtag 31. Dezember 2021 waren sieben Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Österreich bereits über dem Pensionsalter, der Pensionsantritt stehe für 37 Prozent zwölf Jahre ab dem Stichtag auf der Tagesordnung [1]. 2022 gab es hingegen an der MedUni Wien, der MedUni Innsbruck, der MedUni Graz und der JKU Linz im Rahmen von MedAT nur 1.706 Studienplätze für Humanmedizin zu vergeben [2]. Davon sind mindestens 95 Prozent EU-Bürger•innen und ihnen gleichgestellten Personen vorbehalten, mindestens 75 Prozent Studienwerber•innen mit einem Reifezeugnis aus Österreich [3].
Hohe Qualitätsstandards in der Schmerzversorgung über alle Sektoren, Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträger hinweg etablieren
Bei der Ausrollung hoher Qualitätsstandards gelte es, über die Sektoren, Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträger hinweg die Schmerzversorgung abzubilden. „Dabei ist es besonders wichtig, alle Länder gut einzubinden“, so ÖSG-Präsidentin Stromer. Der „Qualitätsstandard Unspezifischer Rückenschmerz“ bietet Empfehlungen für den Ablauf von Diagnose, Therapie und Nachbehandlung von Patientinnen und Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen, abgestuft auf drei Ebenen.
Als weiteren Erfolg im Einsatz für die Verbesserung der Schmerzversorgung in Österreich verzeichnete die ÖSG-Präsidentin die Einführung eines Screening-Tools [„STaRT Back-Tool“] mit einer anschließenden leitliniengerechten Behandlung von Rückenschmerz. Dieses soll im Zuge eines Pilotprojektes in einem Primärversorgungszentrum in Wien in der ersten Jahreshälfte 2023 bereits eingesetzt werden. In Gesprächen mit den Obleuten und Chefärzt•innen von Österreichischer Gesundheitskasse [ÖGK], der Sozialversicherung der Selbständigen [SVS] und der Pensionsversicherungsanstalt [PVA] habe man sich dafür ebenso „vehement eingesetzt“ wie für ein flächendeckendes Angebot einer gezielten, individualisierten schmerzmedizinischen Rehabilitation.
„Nach spätestens sechs Wochen Krankenstand sollte eine entsprechende Zuweisung zur gezielten Rehabilitation erfolgen. Weitere Forderungen an die Sozialversicherung sind die Honorierung einer leitliniengerechten schmerzmedizinischen Versorgung und die „Erstellung eines neuen Leistungskatalogs, der Gesprächsführung, Untersuchung, Edukation sowie Koordination anstatt aktuell nur Infiltration und Infusion vorsieht“. Stromer: „Wir brauchen auch eine den Leitlinien entsprechende Koordination mit Physiotherapie und Psychotherapie sowie ein einfaches und einheitliches Verordnungswesen in allen neun Bundesländern.“
ÖGK zwingt Schmerzpatient•innen ins Wahlarztsystem, weil Zweitmeinung nicht erstattet wird
Scharfe Kritik äußert ÖSG-Vizepräsident und künftiger Präsident Ao. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner [Medizinische Universität Innsbruck] daran, dass seitens der Österreichischen Gesundheitskasse keine Kostenübernahme für eine „zweite Meinung“ vorgesehen sei. „Schmerzpatient•innen, die zur Absicherung einer Behandlungsempfehlung gerne eine zweite Meinung und eine weitere ärztliche Beratung einholen möchten, werden von der ÖGK so ins Wahlarztsystem gezwungen. Dabei könnte die Finanzierung einer zweiten Meinungsvisite durch die ÖGK vielfach beim Sparen helfen, wenn dadurch unnötige Eingriffe vermieden werden können.“
Eisner stelle klar, dass die „unabhängige Begutachtung eines ärztlichen Befundes durch eine zweite Ärztin oder einen zweiten Arzt bei nicht eindeutiger Diagnose ein Beitrag zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen“ sei. Schließlich: „Gute Fachärztinnen und Fachärzte empfehlen ihren Patient•innen, sich bei Zweifeln noch bei einer Kollegin oder einem Kollegen zu informieren. Das ist ein Zeichen von Führungsqualität und zum Nutzen der Stabilisierung von Patientenentscheidungen.“ In Deutschland habe man schon 2003 – vor 19 Jahren – mit der „Charta der Patientenrechte“ diesbezüglich den richtigen Weg beschritten.
ÖSG fordert Zertifikat für Schmerztherapie in interdisziplinären Schmerzeinrichtungen in Krankenanstalten
In Österreich gibt es derzeit in der Schmerzmedizin das Schmerzdiplom, das aus 120 Stunden Theorie und 80 Stunden Praxis besteht. „Laut einer Auswertung der Österreichischen Ärztekammer hatten zuletzt 1.420 Mediziner•innen in Österreich das ÖÄK-Diplom für Spezielle Schmerztherapie. Rund zwei Drittel waren Fachärzt•innen, etwa ein Drittel Allgemeinmediziner•innen. Der größte Anteil der Ärzt•innen mit Diplom fiel auf Wien“ [4], unterstreicht ÖSG-Generalsekretär Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, MSc [Klinikum Klagenfurt am Wörthersee].
Er plädierte dafür, Interdisziplinarität in der Ausbildung zu verankern. Und: „Wir versuchen seit Jahren, ein Zertifikat für Schmerzmedizin im Krankenhaus zu erwirken. Eine weitere Ausbildung mit 400 Stunden Praxis und 80 Stunden Theorie wäre sinnvoll. Wenn Patient•innen, die eine hochspezialisierte Versorgung brauchen, in Schmerzeinrichtungen, Schmerzzentren, Reha-Einrichtungen und Tageskliniken zugewiesen werden, wäre es eine wichtige qualitative Auszeichnung für diese Zentren, eine vertiefte Ausbildung in der Schmerztherapie vorzuweisen. Wir wollen ein ‚Zertifikat für Schmerztherapie in interdisziplinären Schmerzeinrichtungen in Krankenanstalten‘ in Österreich“, so Likar.
Über-, Unter- und Fehlversorgung beim unspezifischen Rückenschmerz beenden
Der evidenzbasierte Standard in der Therapie von chronischen Schmerzzuständen am Stütz- und Bewegungsapparat, etwa an der Wirbelsäule, ist eine multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie. „Hierbei können zusätzlich zu den schulmedizinischen auch integrative Behandlungsmöglichkeiten mit dem Ziel eingesetzt werden, die körperliche Aktivierung von chronischen Schmerzpatienten zu ermöglichen bzw. zu fördern. Was verstehen wir darunter? Es sollen alle evidenzbasierten therapeutischen Ansätze aus der Komplementärmedizin – darunter Manuelle Medizin, Osteopathie, fokussierte und radiale Stoßwellentherapie, Neuraltherapie oder auch Akupunktur – berücksichtigt und in einem ganzheitlichen Ansatz mit schulmedizinischen Methoden kombiniert werden. Sie sind, richtig angewandt, in der Regel nebenwirkungsarm oder gar -frei„, betont ÖSG-Sekretär Prim. Mag. Dr. Gregor Kienbacher, MSc [Theresienhof – Klinikum für Orthopädie und orthopädische Rehabilitation].
Die Physikalische Medizin, Physio- und Ergotherapie sind bereits zentrale Elemente einer multimodalen Therapie. Hinzu kommen die klinische Psychologie, die Edukation sowie sozialmedizinische und pflegerische Elemente. „Dafür ist ein großes interdisziplinäres und multiprofessionelles Team erforderlich, in dem gemeinsam definierte therapeutische Strategien und Therapieziele regelmäßig abgestimmt umgesetzt werden. Das oberste Ziel in der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten ist die körperliche Aktivierung, die Verbesserung der Funktion und somit der Lebensqualität.“
Kienbacher: „Die benötigten Teams und Strukturen finden sich unter anderem in Rehabilitations-Kliniken, die sich auf die Behandlung von Schmerz-Syndromen spezialisiert haben. Die vorherrschende ambulante Versorgungsform von Schmerzpatient•innen hingegen ist aus Sicht der Österreichischen Schmerzgesellschaft im besten Falle multidisziplinär ausgerichtet und somit insuffizient. Notwendige interdisziplinäre Versorgungsformen sind unter anderem durch das Fehlen finanzieller Vergütungsformen derzeit nicht umsetzbar.“
Kienbacher wendet sich entschieden gegen die Über-, Unter- und Fehlversorgung bei unspezifischen Rückenschmerz-Patient•innen. Das größte Problem sei, dass das Chronifizierungsrisiko oft nicht erkannt und berücksichtigt werde und somit keine leitliniengerechte Behandlung erfolgen könne. Aber auch der unimodale Einsatz von Analgetika oder alternativen Heilungsmethoden bringe nicht den gewünschten Erfolg. „Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse empfehlen, Placeboeffekte maximal zu nutzen“ [5]. Je mehr Zuversicht Ärzt•innen den Patient•innen in Bezug auf eine heilende Wirkung der angewandten Maßnahme vermitteln, umso stärker ist meist auch die positive Reaktion. Studien haben gezeigt, dass der Placeboeffekt vor allem dann eintritt, wenn Ärzt•innen die Beschwerden der Patient•innen ernst nehmen und ihre Sorgen nicht herunterspielen [6].
26 Prozent der Bevölkerung: Chronische Kreuzschmerzen oder ein anderes chronisches Rückenleiden
Laut der von der Statistik Austria und dem Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz herausgegebenen Publikation „Österreichische Gesundheitsbefragung 2019“ berichteten 1,9 Millionen bzw. 26 Prozent der österreichischen Bevölkerung von chronischen Kreuzschmerzen oder einem anderen chronischen Rückenleiden. Von chronischen Nackenschmerzen bzw. sonstigen Schmerzen an der Halswirbelsäule berichteten 1,4 Millionen Menschen [7].
Quellenangaben
[1] Österreichische Ärztekammer, Website vom 10. Jänner 2023.
[2] Medizinische Universität Wien, Webseite vom 10. Jänner 2023.
[3] OTS 0029 vom 13. April 2022, Presseaussendung der Medizinischen Universität Wien: MedAT-Aufnahmeverfahren zum Medizinstudium: 15.788 Anmeldungen, Website vom 10. Jänner 2023.
[4] Österreichische Ärztekammer, Auswertung für die Österreichische Schmerzgesellschaft, Jänner 2023.
[5] Neuro-Bio-Behavioral Mechanisms of Placebo and Nocebo Responses: Implications for Clinical Trials and Clinical Practice. Schedlowski M, Enck P, Rief W, Bingel U. Pharmacol Rev. 2015 Jul;67(3):697-730.
[6] The potential of the analgetic placebo effect – s3-guideline recommendation on the clinical use for acute and perioperative pain management. Klinger R. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2010 Jan;45(1):22-9.
[7] STATISTIK AUSTRIA, Gesundheitsbefragung 2019, S.6f.
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