Eine Auswertung[1] über 17 Jahre österreichischer Krankenhausaufenthalte zeigt: Adipositas ist ein erheblicher Risikofaktor für psychische Erkrankungen. Expertinnen und Experten fordern mehr Aufmerksamkeit und Unterstützungsangebote für Patientinnen und Patienten mit Adipositas und psychischen Erkrankungen.
Adipositas ist die erste Diagnose, der innerhalb weniger Jahre psychische Erkrankungen folgen
Anhand aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen und Praxisberichte zeigen Medizinerinnen und Mediziner auf, wie eng die chronische Stoffwechselerkrankung Adipositas mit psychischer Gesundheit verknüpft ist: Zwei von fünf Adipositas-Betroffenen leiden auch an einer psychischen Erkrankung[2]. „Wir behandeln immer mehr Patientinnen und Patienten mit Adipositas, die bereits schwere psychische Belastungen aufweisen“, berichtet Yvonne Winhofer-Stöckl, Internistin und Oberärztin an der Adipositas-Ambulanz im AKH Wien und assoziierte Professorin an der MedUni Wien.
Eine aktuelle Wiener Studie hat die Versicherungsdaten von neun Millionen Österreicher•innen zwischen 1997 und 2014 ausgewertet. Die Analyse von knapp 45 Millionen Krankenhausaufenthalten zeigt: „Adipositas ist die zuerst gestellt Diagnose, der innerhalb weniger Jahre psychische Erkrankungen folgen“, so Alexander Kautzky, Oberarzt an der psychiatrischen Ambulanz am AKH Wien, assoziierter Professor der MedUni Wien und Autor der heuer publizierten Studie[1] zu Adipositas und Psyche.
Barbara Andersen, Klinische und Gesundheitspsychologin, Adipositas-Betroffene und Mitbegründerin der Österreichischen Adipositas-Allianz, kennt die Erkrankung aus mehreren Perspektiven. Vorurteile und Stigmatisierung begegnen Adipositas-Patient•innen in allen Bereichen ihres Alltags.
Andersen präzisiert mit Beispielen: „Wenn man von Adipositas betroffen ist, ist es schwerer, Ausbildungs- oder Arbeitsplätze zu bekommen oder auf der Karriereleiter hochzukommen. Attribute wie ‚undiszipliniert‘ oder ‚verantwortungslos‘ werden einem schon bei der Bewerbung zugeschrieben.“ Sie berichtet, dass Adipositas-Betroffene sich bei Arztbesuchen häufig nicht ernstgenommen fühlen, da Symptome häufig rein auf das Gewicht zurückgeführt werden. Sie berichtet weiter von einer Kindheitserinnerung: „Ein Satz ist in meiner Familie häufig gefallen – ‚Es ist schon genug, denk an dein Bäuchlein‘. Ich habe in Folge meine erste Diät im Alter von zwölf Jahren gemacht“.
Wechselwirkung von Körper und Psyche
Adipositas und psychische Erkrankungen weisen Korrelationen auf, erklärt Kautzky, die durch präzise Blutuntersuchungen nachweisbar sind. „Wenn unsere Zellen mit übermäßiger Energiezufuhr konfrontiert werden, entsteht Zellstress und Entzündungsreaktionen treten ein. Das könnte ein Risikofaktor etwa für Depressionen sein. Denn auch hier sind Entzündungen im Körper messbar“, erläutert Kautzky.
Eine weitere Wechselwirkung betrifft die Ernährung. „Die Appetitregulation im Hirn ist eng mit dem limbischen System verbunden, in dem Botenstoffe wie das sogenannte ‚Glückshormon‘ Dopamin ausgeschüttet wird. Es zeigt sich, dass Menschen mit Adipositas für die gleiche Menge ausgeschüttetem Dopamin mehr Nahrung benötigen als Normalgewichtige. Wir wissen auch, dass ein Mangel an Dopamin zu den Ursachen einer Depression zählt“, erklärt Winhofer-Stöckl.
Kautzky führt weiter aus, dass Ernährung einen starken Einfluss auf die Psyche hat – direkt und über das Mikrobiom im Darm. So werden bestimmte Darmbakterien beispielsweise mit erhöhtem Stress und Depressionen assoziiert. „Schlechte Ernährung kann die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Wer von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, neigt jedoch zur Vernachlässigung gesunder Ernährungsgewohnheiten. Eine Spirale entsteht, in der sich Erkrankungen wie die Adipositas wiederfinden“, erklärt Kautzky.
Mehr Sport als simple Lösung?
Adipositas ist eine chronische Stoffwechselerkrankung, die zu zahlreichen Folge- und Begleiterkrankungen führen kann. „Gerade wenn sich bereits Folgeerkrankungen mechanischer Natur manifestiert haben, führt das für Betroffene zu einer starken psychischen Belastung im Alltag“, führt Winhofer-Stöckl an. Andersen bestätigt dies und berichtet von zunehmendem sozialen Rückzug und Isolation: „Es ist mit sehr viel Scham verbunden, wenn man bemerkt, dass man etwa beim Wanderausflug mit Freunden einfach nicht mithalten kann, schwer Luft bekommt und schwitzt“.
Kautzky weist hier auf eine weitere Abwärtsspirale hin: „Die sportliche Betätigung ist zunehmend schwierig, Bewegung wird aber präventiv gegen Depressionen empfohlen. Gleichzeitig ist Fakt, dass sich Menschen mit Depressionen weniger bewegen – was wiederum das Risiko für metabolische Erkrankungen erhöht“.
Screening psychischer Gesundheit soll in Adipositas-Guidelines
„Aktuell gibt es zu wenige Anlaufstellen zur psychologischen Behandlung von Adipositas-Betroffenen. Das wird mit der steigenden Patient•innenzahl zunehmend zum Problem“, warnt Winhofer-Stöckl. Andersen, die sich vor 17 Jahren einer Magenbypass-Operation unterzogen hat, kritisiert die fehlende psychologische Nachsorge nach der Adipositas-Chirurgie: „Vor der OP wird ein psychologisches Gutachten verlangt, danach jedoch sind wir Betroffenen ganz auf uns allein gestellt“.
In Anbetracht der Ergebnisse seiner Studie fordert Kautzky: „Die wichtigste Botschaft der Studie ist, dass bei Adipositas frühzeitig ein Screening auf psychische Erkrankungen passieren muss“. Er identifiziert eine Versorgungslücke, die es zu schließen gilt: „Umgekehrt ist das bereits verankert: Bei psychiatrischen Erkrankungen empfehlen die Guidelines, auf metabolische Probleme zu achten.“
Über Adipositas
Adipositas ist eine ernstzunehmende, chronische Stoffwechselerkrankung, die potentiell schwerwiegende Begleiterkrankungen und Folgen haben kann. Von Adipositas spricht man ab einem Body-Mass-Index [BMI] von 30. Der medizinische Bedarf bezüglich Adipositas ist weltweit hoch und auch in Österreich steigen die Zahlen Betroffener: Bereits heute leiden beinahe 17 Prozent[3] der Bevölkerung in Österreich an Adipositas – Tendenz steigend. Weltweit sind 813 Millionen Erwachsene und 175 Millionen Kinder und Jugendliche betroffen. Bis 2035 wird diese Zahl voraussichtlich auf 1,5 Milliarden ansteigen.
Quellen
1: Obesity as pleiotropic risk state for metabolic and mental health throughout life, Alexander Kautzky, Elma Dervic, Peter Klimek, Stefan Thurner, Michael Leutner, Doi: https://doi.org/10.1038/s41398-023-02447-w
2: Lin HY, Huang CK, Tai CM, Lin HY, Kao YH, Tsai CC, et al. Psychiatric disorders of patients seeking obesity treatment. BMC Psychiatry. 2013;13:1.
3: IHS-Auswertung der Austrian Health Interview Survey (ATHIS), nachzulesen unter: https://bit.ly/3LXnXFZ
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