Übergewicht und Adipositas haben viele Ursachen. Umso mehr verwundert die Aussagen eines Forscherduos in der Sendung „Punkt 1“ vom 7. Februar 2023 im ORF-Radio, wonach Ultra-Processed Food [UPF], also hochverarbeitete Lebensmittel Hauptursache dafür wären. Betrachtet man aktuelle wissenschaftliche Fakten, so ist die Aussage schlicht und ergreifend nicht richtig. Auch die Feststellung, Essen könne Effekte und Wirkungen wie Suchtmittel hervorrufen und eine Sucht verursachen, ist nicht belegbar und daher unzulässig. Gemeinsam mit dem forum. ernährung heute [f.eh] begeben wir uns auf Faktencheck.
37 Studien zum Thema Verzehr stark verarbeiteter Lebensmittel analysiert
Steht UPF mit Übergewicht und Adipositas in einem Zusammenhang oder entsteht dieses Ergebnis in Studien aufgrund methodischer Ungenauigkeiten oder fragwürdiger Interpretationen und Verzerrungen? Janine Bröder et al. [2023] sind dieser Frage nachgegangen und haben für die Deutsche Gesellschaft für Ernährung [DGE] eine systematische Übersichtsarbeit zum Verzehr stark verarbeiteter Lebensmittel und den Zusammenhang mit ernährungs-mitbedingten Erkrankungen untersucht. Sie haben dazu 37 Studien analysiert.
Das Ergebnis: Für zehn der Studien wurde ein moderates und für 27 ein hohes Risiko für Verzerrungen festgestellt. So zeigte sich für vier der untersuchten Erkrankungen zwar eine überwiegend risikosteigernde Assoziation, aber eben keine Kausalität zwischen dem Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel und der untersuchten Erkrankung.
NOVA-System ist nicht wissenschaftlicher Konsens
Kritik äußert die Deutsche Gesellschaft für Ernährung in ihrem aktuellen Bericht vor allem am NOVA-Klassifizierungssystem, das oftmals in wissenschaftlichen Studien herangezogen wird. Es ordnet Lebensmittel nach deren Verarbeitungsgrad in vier Gruppen ein und orientiert sich dabei an den Verarbeitungstechniken, der Anzahl der Zutaten, der Zubereitungsart und der Erkennbarkeit der Hauptkomponenten. Aber deren Auswirkungen auf chemische, physikalische oder ernährungsphysiologische Eigenschaften werden kaum berücksichtigt. Die Klassifikation in vermeintlich gesunde [Gruppe 1] und ungesunde [Gruppe 4] Lebensmittel wird entsprechend von führenden Ernährungsgesellschaften – wie auch der Deutschen Gesellschaft für Ernährung – abgelehnt.
Weiters sind die vier NOVA-Gruppen nicht klar definiert, entsprechend gibt es bisher noch keinen wissenschaftlichen Konsensus zu einheitlichen, objektiven und eindeutigen Kriterien. Beispielsweise ist Brot in Gruppe 3 gelistet, avanciert durch ein Vorschneiden aber zu einem Lebensmittel der Gruppe 4, obwohl sich an Zutaten und Verarbeitungsgrad nichts ändert. Konsens besteht grundsätzlich nur darüber, dass UPF – also die vierte Gruppe – nicht den Großteil der Ernährung ausmachen sollte. In der ORF-Radiosendung wurden diese aber sogar als „verbotene Lebensmittel“ bezeichnet, kritisiert Marlies Gruber, Ernährungswissenschaftlerin und Geschäftsführerin des f.eh: „Diese Diktion ist polemische Angstmache ohne gesicherte wissenschaftliche Evidenz und befeuert nur die Unsicherheit der Menschen.“
Hauptkritik der Forscher des DGE-Ernährungsberichts: Die Komplexität und die Zusammensetzung von Lebensmitteln werden in den angewendeten Klassifizierungssystemen nur unzureichend berücksichtigt. Auch die Erhebung des Verzehrs hochverarbeiteter Lebensmittel ist eingeschränkt. Die Erfassung von UPF auf Basis der in den untersuchten Studien eingesetzten Ernährungserhebungsinstrumente weist zudem ein hohes Verzerrungsrisiko etwa aufgrund fehlender Produktinformationen auf. Die DGE erachtet daher insgesamt valide Erhebungsinstrumente sowie die Durchführung weiterer Studien als unbedingt notwendig für ein tiefergehendes, differenziertes Verständnis der mit UPF assoziierten Wirkmechanismen auf die menschliche Physiologie.
Heißt „übersetzt“: Zahlreiche Aussagen über einen Kausalzusammenhang zwischen UPF und der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas, Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind derzeit seriös-wissenschaftlich nicht belegbar.
Convenience-Essen ist keine Droge
Kritik äußert Marlies Gruber auch am Vergleich von Lebens- mit Suchtmitteln: „Lebensmittel sind keine Drogen. Der Vergleich ist eine Verharmlosung tatsächlich problematischer Substanzen und Erkrankungen. Analogien in diese Richtung sind daher auf das Schärfste zurückweisen.“ Aus wissenschaftlicher Sicht ist für die Definition als Suchtmittel entscheidend, dass es unmittelbar und psychotrop wirken muss, also massiv psychisch verändert. „Das ist mit Lebensmitteln nicht zu erreichen. Ein übermäßiger Konsum aufgrund eines bloßen Verlangens ist kein Suchtverhalten und endet auch nicht in einer Sucht. Daher sind Vergleiche von Lebens- mit Suchtmitteln weder zulässig noch zielführend“, so Gruber.
Die sogenannte ICD-10-Systematik [International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems] definiert sechs Kriterien für eine Sucht, von denen drei über mehrere Wochen zutreffen müssen, um von einem Abhängigkeitssyndrom oder einer Sucht sprechen zu können. Dazu zählen Craving [Zwang des Konsums psychotroper Substanzen], Kontrollverlust, körperliche Abhängigkeit, Toleranzentwicklung sowie psychische Abhängigkeit in Form einer fortschreitenden Vernachlässigung anderer Interessen oder eines anhaltenden Konsums trotz schädlicher Folgen.
Weder Lebensmittel, noch Nährstoffe wie Zucker und Fett erfüllen diese Kriterien. Sie sind daher keine Substanzen mit Suchtpotenzial. Suchtverhalten ist zudem oftmals nicht die Primärerkrankung, sondern die Folge psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Panikstörungen.
Quellenangaben
- Mertens E, Colizzi C, Pnalvo JL: Ultra-processed food consumption in adults across Europe. EJN (2022) 61: 1521-153
- Public Health England: Sugar Reduction – the evidence for action. 2015
- Penzenstadler L et al.: Systematic Review of Food Addiction as Measured with the Yale Food Addiction Scale: Implications for the Food Addiction Construct. Current Neuropharmacology, 2019, 17, 526-538
- Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.: 15. DGE-Ernährungsbericht. Vorveröffentlichung Kapitel 8. 2023
- Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.: 15. DGE-Ernährungsbericht. Vorveröffentlichung Kapitel 9. 2023
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