Wie die jüngst veröffentlichte Aktualisierung der Pflegepersonal-Bedarfsprognose zeigt, werden jährlich zwischen 5.000 und 6.000 zusätzliche Personen für den Bereich Pflege und Betreuung benötigt – dies, rein aufgrund von Pensionierungen und demografischen Entwicklungen.
„Die bisherigen Pflege-Reformschritte der Bundesregierung waren mit dem Schwerpunkt auf Ausbildung richtig und wichtig. Gleichzeitig haben wir als Caritas immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Maßnahmen nicht ausreichen werden, um Pflege zukunftsfit zu machen“, so Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich. Dies bestätigt auch die Prognose der Gesundheit Österreich [GÖG].
Parr weiter: „Obwohl noch nie so viele Menschen wie heute in Pflege- und Betreuungsberufen tätig sind oder gerade Ausbildungen absolvieren, fehlen insgesamt bis zum Jahr 2030 rund 51.100 Pflege- und Betreuungspersonen, bis 2040 sogar knapp 120.000 Personen“.
Pflegepersonal im Beruf halten und ausreichende Ausbildungsplätze sichern
Nicht berücksichtigt ist in der aktuellen Pflegepersonalbedarfsprognose die Fluktuation. Parr: „Wenn wir es nicht rasch schaffen, die Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass Pflege- und Betreuungspersonen möglichst lange in ihren Berufen bleiben, wird der Fachkräftebedarf noch größer. Hier sind Politik und Träger gleichermaßen und gemeinsam gefordert.“
Fakt ist auch: Der Bedarf an neuen Pflege-Fachkräften kann durch die bestehenden Ausbildungsplätze nicht gedeckt werden. Es braucht hier rasch weitere Ausbildungsplätze, aber damit einhergehend auch eine Ausbildungsoffensive für Pflegepädagog•innen und einen Ausbau der Praktikumsstellen mit entsprechender Finanzierung der Praxisanleitung.
Systemreform mit betroffenen Menschen im Mittelpunkt
Die Caritas Österreich unterstützt die Schlussfolgerungen der Studie, allen voran Maßnahmen für Wiedereinsteiger•innen, die Anwerbung ausländischer Fachkräfte, eine Digitalisierungsoffensive und den Fokus auf Gesundheitsprävention – sowohl für ältere Menschen, um möglichst lang mobil zu bleiben, als auch für Mitarbeitende, um lange gesund in diesem Job arbeiten zu können.
Parr: „Die Bedarfe liegen am Tisch. Als einer der größten Träger in Österreich appellieren wir an die Politik, jetzt nicht locker zu lassen, sondern diese Prognose der GÖG als Rückenwind für weitere Maßnahmen, aber auch für eine echte Systemreform zu nutzen, die unsere Pflege und Betreuung zukunftsfit macht. Trotz bisheriger Pflegereformschritte sehen wir in der Pflege- und Betreuungslandschaft in Österreich nach wie vor einen Fleckerlteppich. Die pflegerische Versorgung ist aktuell weder flächendeckend vorhanden, noch ist die Qualität einheitlich gesichert, Kosten, Arbeitsbedingungen und Personalschlüssel sind je Bundesland unterschiedlich. Dafür gibt es keine fachlichen Argumente, es braucht hier endlich eine bundesweite Vereinheitlichung.“
Personal-Lücke in der Pflege: gute Bedingungen halten Personal und steigern Lebensqualität
Im Zuge der Pflegepersonalbedarfsprognose verweist auch die Diakonie darauf, dass es nicht ausreicht, die Pflege über Gehälter und Ausbildungsoffensiven zu attraktivieren. „Menschen im Beruf zu halten oder zurückzugewinnen, erfordert eine grundlegende Reform des Systems“, betont Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. „Derzeit müssen sich Menschen mit Pflegebedarf genauso wie Menschen in den Pflegeberufen zu oft in die Logik des Systems zwängen“, bedauert Moser. „Wichtig wäre es, jene Wohn- und Betreuungsformen auszubauen, die den Menschen guttun, denn solche machen auch Pflegekräfte zufrieden und Pflege-Teams resilient“.
Rasch ändern: unflexible Rahmenbedingungen, bürokratische Hürden und effizienzfressende Prozesse
Dem stehen unflexible Rahmenbedingungen, bürokratische Hürden und effizienzfressende Prozesse entgegen. „Diese frustrieren, sie lenken von der Beziehung zum Menschen ab. Und sie verringern die Zeit, die für die Arbeit am und mit dem Menschen bleibt, auf ein Mindestmaß. Das ist der tiefere Grund, warum Pflegekräfte zu oft ihren Beruf in der Langzeitpflege aufgeben“, so Moser.
„Auch wenn wir wissen – aus Forschung und internationalen Erfolgsbeispielen – wie Betreuung und Pflege für die Menschen von heute aussehen kann und soll, sind wir weiterhin in jahrzehntealten Strukturen gefangen“, erläutert die Diakonie-Direktorin. So setze das Pflegesystem an zu vielen Stellen Gelder wenig effizient ein und gehe vor allem an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
Aktuell ist Spielraum für echte Innovation gering
Der Spielraum für echte Innovation ist gering, neue Projekte finden keine nachhaltige Finanzierung. Zwischen mobiler Betreuung und stationären Settings gibt es zu wenig Durchlässigkeit in beide Richtungen. Angebote, die einen Verbleib zu Hause sichern oder sogar eine Rückübersiedlung ermöglichen, stehen in viel zu geringem Maß zur Verfügung und sorgen zu oft für eine Übersiedlung ins stationäre Wohnen mangels Alternativen. Diese ist volkswirtschaftlich teuer und nicht immer das, was die Betroffenen wollen.
Bürokratische Hürden frustrieren oftmals Pflegekräfte bis zur Aufgabe. Eines der vielen Beispiele ist die Abholung von Medikamenten für die Klient•innen, die Betreuungsstunden im sechstelligen Bereich „frisst“ und bei der die Pflege zwischen den verschreibenden und abgebenden Stellen aufgerieben wird.
Dazu kommt eine Zersplitterung der Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, die alle die Langzeitpflege steuern. „Derzeit begrenzt also das System die Möglichkeiten. Wir brauchen aber eine Pflegelandschaft, in der Menschen mit Pflegebedarf das Angebot bestimmen„, so Moser.
Diakonie legt neues Dienstleistungs- und Finanzierungskonzept für Pflege vor
Mit dem Dienstleistungs- und Finanzierungskonzept „SING – Seniorenarbeit innovativ gestalten“ hat die Diakonie ein grundlegend neues Modell vorgelegt. Es stellt den Menschen mit Betreuungsbedarf in den Mittelpunkt. Pflegelots•innen überlegen mit den Betroffenen, wie sie leben wollen, welche Unterstützung sie dafür brauchen und welche Dienstleistungen es gibt. SING verbindet die so ermittelten bedarfsgerechten Dienstleistungen mit einer neuen Finanzierungslogik: Kernstück des Modells bleibt die Pflegegeldzahlung. Einen Teil ihres Pflegegeldes können Pflegegeldbezieher•innen in einen höheren „Autonomiebetrag“ umwandeln. Damit können sie Dienstleistungen beziehen, die ihnen ermöglichen, weiterhin zu Hause zu leben. Die Aufgabe der Sozialorganisationen ist es, passende Angebote [weiter] zu entwickeln und bereit zu stellen.
Eine echte Pflegereform ist mehr
Auch Ingrid Korosec, Präsidentin des Ö-Seniorenbundes, mahnt angesichts der bevorstehenden Herausforderungen im Pflegesektor, insbesondere dem demographischen Wandel und dem steigenden Bedarf an qualifiziertem Pflegepersonal, zur einer dringenden umfassenden Pflegereform. „Wir stehen vor einer beispiellosen Herausforderung: Bis 2050 werden bis zu 200.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt, um der alternden Babyboomer-Generation gerecht zu werden. Es ist ermutigend, dass erste Maßnahmen bereits in die Wege geleitet wurden. Eine echte Pflegereform geht aber weit über die bloße Erhöhung der Zahl der Pflegekräfte hinaus“.
Korosec hebt insbesondere die Bedeutung der Digitalisierung im Pflegesektor hervor, die in der aktuellen Diskussion ihrer Meinung nach noch viel zu wenig Beachtung findet. „Telecare, Telemedizin und Smart-Home-Technologien bieten enorme Potenziale, um die Pflege und Betreuung zu Hause zu erleichtern und effizienter zu gestalten. Es ist an der Zeit, dass wir diese Chancen ergreifen“.
Des Weiteren kritisiert sie die langsame Ausweitung mobiler Pflegedienste und die starken regionalen Unterschiede bei den Kosten und dem Zugang zu Betreuungsleistungen in Österreich. Korosec fordert eine Angleichung der Bedingungen und eine offene Diskussion über erfolgreiche Modelle aus anderen Ländern, wie beispielsweise das dänische Betreuungsmodell.
Pflegereform als Chance für eine grundlegende Neugestaltung der Pflege und Betreuung in Österreich
Dringenden Handlungsbedarf sieht Korosec auch betreffend der Problematik, dass viele Seniorinnen und Senioren durch die Pensionserhöhung ihren Anspruch auf die Förderung der 24-Stunden-Betreuung verloren haben, da die Einkommensgrenze von 2.500 Euro netto nicht angepasst wurde. „Es ist paradox und ungerecht, dass Menschen gerade dann, wenn sie eine kleine Verbesserung ihrer finanziellen Situation erfahren, gleichzeitig wichtige Unterstützungen verlieren. Hier ist dringend eine Anpassung gefordert. Wir müssen den Mut haben, neue Wege zu gehen und innovative Lösungen zu finden, die den Bedürfnissen älterer Menschen gerecht werden und ihnen ein selbstbestimmtes Leben im Alter ermöglichen“.
(Bilder: AdobeStock, Caritas/ Ingo Pertramer, (c) Diakonie/ Simon Rainsborough)