Stetig steigende Zahlen an Betroffenen, verschärft durch die Pandemie. Spezialistinnen und Spezialisten, die Alarm schlagen und vor gravierenden Folgeerkrankungen warnen. Und trotzdem: die komplexe Stoffwechselerkrankung Adipositas wird immer wieder lapidar als „Life-Style-Problem“ abgetan, an dem die Betroffenen „selbst schuld“ sind.
Ab einem Body-Mass-Index [BMI] von 30 spricht man von Adipositas, also Fettleibigkeit. Von dieser Erkrankung waren vor der Pandemie schon mehr als 1,2 Millionen Menschen in Österreich betroffen. Adipositas ist eine weltweit immer häufiger auftretende, chronische Erkrankung mit schwerwiegenden Folgen für das kardiovaskuläre System. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnet Adipositas als folgenschwere Bedrohung, die weltweit mittlerweile bereits „mehr Todesfälle verursacht als Unterernährung bzw. Untergewicht“.
Ständiges Ringen mit dem Hunger
Medizinische Spezialistinnen und Spezialisten[1] sprechen jedenfalls von Adipositas als komplexer, chronischer Stoffwechselerkrankung[2] – mit vielen Einflussfaktoren. Die Genetik spielt laut Zwillingsstudien in 70-80 Prozent der Fälle eine Rolle und ist somit der stärkste Faktor.
Genetik kann dabei zum Beispiel bedeuten, dass Menschen leichter Fett in ihrem Körper einlagern, oder dass sie stärkere Hungersignale verspüren. Sie greifen in der Folge häufiger zum Essen und dabei auch zu größeren Mengen. Physisch übermäßig hungrig zu sein ist unangenehm und der Grund, warum 90 Prozent aller Abnehmversuche scheitern. Was in Urzeiten ein wichtiges Überlebensprinzip war und die Menschen zur Jagd antrieb, wird im modernen Leben der westlichen Welt zur Gewichts-Falle.
Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Gerhard Prager, Leiter der Adipositas-Ambulanz der Universitätsklinik für Allgemeinchirurgie der MedUni Wien, erhob etwa in einer Langzeit-Studie[3] anhand der Gesundheitsdaten junger Männer bei der Stellung beim österreichischen Bundesheer, dass die Prävalenz für Übergewicht gestiegen ist und vor allem Adipositas Grad 2 und 3 überproportional zugenommen haben. Das bedeutet in der Folge in letzter Konsequenz auch eine verkürzte Lebenserwartung. Weiters zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen erhöhtem BMI und einem niedrigeren Bildungsgrad sowie sozioökonomischen Status.
Behandlung für ein komplexes Problem
Aber was kann man dagegen tun? Einfach den Hunger unterdrücken und weniger essen? Eine zynische Empfehlung, der Spezialistinnen und Spezialisten nichts abgewinnen können. Prof. Dr. Florian Kiefer, Leiter der Spezialambulanz für Hormonelle Erkrankungen im Wiener AKH, empfiehlt eine frühzeitige Diagnostik und ein sorgfältiges Abklären möglicher medizinischer Ursachen.
„Gerade bei Frauen können auch hormonelle Störungen eine entscheidende Rolle spielen, wie etwa das PCO-Syndrom[4]. Man schätzt, dass etwa jede zehnte Frau im gebärfähigen Alter zumindest eine gewisse Neigung dafür aufweist, aber dennoch ist die Erkrankung relativ unbekannt.“ Wünschenswert bei Adipositas wäre eine multifaktorielle Behandlung, so Kiefer weiter.
Für Menschen mit Adipositas ist es kaum möglich, mittels Nahrungsreduktion und Bewegung dauerhaft an Gewicht zu verlieren. In der Therapie wird nach einem „Stufenplan“ vorgegangen. Zuerst versucht man, den Lebensstil mittels Ernährungsberatung und Bewegung zu ändern, wodurch langfristig fünf bis zehn Prozent an Gewichtsverlust möglich wären. Die nächste Stufe ist eine medikamentöse Therapie, die mittelfristig 15 Prozent an Gewichtsverlust leistet. In der dritten Stufe werden schließlich Operationen zur Verkleinerung des Bauchumfangs vorgenommen.
Alles andere als ein „Life-Style-Problem“
Und diese Behandlungen sollte letztlich so früh wie möglich beginnen. Prager: „Problematisch ist, dass Jugendliche die Adipositas ins Erwachsenenalter mitnehmen. Je länger man stark übergewichtig ist, desto wahrscheinlicher kommt es zu Folgeerkrankungen. Und je höher der BMI, desto höher ist auch die Anzahl der Begleiterkrankungen.“ Problematisch sei es auch, dass Adipositas „noch immer nicht als ernstzunehmende chronische Erkrankung gesehen wird, sondern als Life-Style-Angelegenheit“, so Prager.
Der freie Zugang zur Behandlung bleibt Menschen mit Adipositas gerade in Bezug auf die unterstützend eingesetzten medikamentösen Therapien allerdings oftmals verwehrt. Geschätzte zwei Drittel der Kosten für etwaige Therapien müssen aus der privaten Kasse gezahlt werden. Damit werden Menschen mit Adipositas diskriminiert, während Betroffenen anderer chronischen Erkrankungen, wie zum Beispiel COPD oder Typ-2-Diabetes, zugelassene Therapien ganz selbstverständlich zur Verfügung stehen.
Therapie auch wirtschaftlich sinnvoll
Die moderne Abnehm-Medizin hat in den letzten Jahren sehr große Fortschritte gemacht. Schwerwiegende Folgeerkrankungen von Übergewicht wie unter anderem Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs und andere können mithilfe neuer innovativer Medikamente verzögert oder gar völlig verhindert werden – eine Tatsache, die auch wirtschaftlich sinnvoll wäre. Denn laut einer Studie[5] verursacht Adipositas in den OECD Ländern 70 Prozent der Diabetes-Behandlungskosten, 23 Prozent der Behandlungskosten für Herzkreislauferkrankungen und neun Prozent der Krebs-Behandlungskosten.
In Summe müssen in Österreich pro Jahr ungefähr 3,5 Milliarden Euro für die Behandlung von Adipositas ausgegeben werden.
Betroffene nach aktuellem Stand der Wissenschaft zu behandeln ist daher – neben einer gesteigerten Lebensqualität und verbesserten Gesundheit – auch gesellschaftspolitisch dringend erforderlich. Prager appelliert in diesem Sinn, Adipositas als gesellschaftliches Problem und als Erkrankung mit schwerwiegenden Folgen anzuerkennen. Es gehe für alle darum, den Lebensmodus zugunsten mehr Bewegung zu ändern: „Wir sitzen zu viel. Sitzen ist das neue Rauchen.“
Referenzen | Quellenangaben
- Adipositas-Spezialistinnen und Spzialisten in Österreich, die sich mit der Erkrankung und ihrer Therapie befassen, sind gelistet auf: Arzt-finden.at
- Für Adipositas existiert die klare Zuweisung eines international anerkannten Klassifizierungscodes für Krankheiten: ICD-10-CM Code E66
- Die Studie wurde im Fachjournal Obesity Surgery publiziert.
- Polycystisches Ovarialsyndrom: die häufigste Hormonstörung bei Frauen im gebärfähigen Alter, die unter anderem durch eine gestörte Eizellreifung, unregelmäßige Menstruationszyklen und erschwerten Schwangerschaftseintritt gekennzeichnet ist.
- OECD Studie „The Heavy Burden of Obesity – The Economics of Prevention“ [2019]
(Bilder: AdobeStock)