Die Aufarbeitung der Coronazeit anhand von fünf wissenschaftlichen Fallbeispielen und einem breit aufgesetzten Bürgerdialog war das Ziel der Corona-Studie „Nach Corona. Reflexionen für zukünftige Krisen“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften [ÖAW]. Im Fokus stand das Lernen für künftige gesamtgesellschaftliche und politische Herausforderungen und nicht die Bewertung von vergangenen Entscheidungen oder Maßnahmen.
Alexander Bogner, Projektleiter und Soziologe an der ÖAW, sagt dazu: „In der Corona-Krise war das Vertrauen der Bevölkerung in Medien, Wissenschaft und Regierung zunächst hoch. Vertrauensverluste drohen, wenn breite, ergebnisoffene Debatten fehlen, politische Maßnahmen nicht gut kommuniziert werden und Medien, Wissenschaft und Politik den Eindruck erwecken, in Symbiose zu leben.“
Unabhängigkeit von Wissenschaft und Medien zentral
Ein zentrales Ergebnis, das sowohl die wissenschaftliche Studie als auch der Bürgerdialog ergaben, bezieht sich auf das Rollenverständnis von Politik, Wissenschaft und Medien. Während der Pandemie entstand aufgrund der notwendigen, engen Koppelung der Eindruck einer wechselseitigen Instrumentalisierung. Das führte zum zunehmenden Vertrauensverlust der Bevölkerung in alle drei Player.
In Krisenzeiten ist es daher wesentlich, dass Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten klar verteilt sind und Wissenschaft und Medien nicht als verlängerter Arm der Regierung wahrgenommen werden, so die Studienautor•innen. Diese Sichtweise unterstreicht auch der Bürgerdialog „Österreich am Wort“ deutlich: 97% der 319 Teilnehmer•innen an den Dialogveranstaltungen sehen eine unabhängige Wissenschaft als wichtigste Empfehlung zur Vermeidung von Polarisierung, 96% politisch unabhängige Medien.
Wissenschaftsskepsis
Die Annahme einer mangelnden Unabhängigkeit der Wissenschaft war eine wesentliche Triebfeder für die lauter werdende Wissenschaftsskepsis, die in wöchentlichen „Corona-Demonstrationen“ ihren Höhepunkt fand. Die Studienautor•innen weisen allerdings auch darauf hin, dass die Wissenschaftsskepsis nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern ein politisches Phänomen und Teil einer allgemeinen Institutionenskepsis ist.
Ein Stärken der politischen Bildung, der Vermittlung von Arbeitsweisen der Wissenschaft und von Science Education leitet die Studie als Empfehlung aus den Ergebnissen ab. In einer für die Studie durchgeführten quantitativen Befragung sprechen sich nicht nur wissenschaftsaffine, sondern auch der Wissenschaft gegenüber distanzierte oder skeptische Personen – insgesamt 64% – für eine Vermittlung des wissenschaftlichen Denkens ins Schulen aus.
Ende der Pandemie vs. Ende der Freiheit
Konflikte hat es während der Pandemie zwar zur Genüge gegeben, an transparentem Austausch von unterschiedlichen Argumenten mangelte es unter dem Zeitdruck mancher Entscheidungen allerdings. Vor allem im Zusammenhang mit der Impfpflicht hat eine transparente Entscheidungsfindung gefehlt, macht die Studie deutlich. Stattdessen wurde die Impfpflicht als einzige Option dargestellt, um die Pandemie nach fast zwei Jahren in den Griff zu bekommen. Dies verstärkte den moralischen Tonfall in der öffentlichen Debatte.
Die Folge war eine Polarisierung, bei der sich zwei Lager herausbildeten: Die einen erhofften durch die Impfung das Ende der Pandemie, die anderen fürchteten das Ende der Freiheit. Eine offene, argumentative Austragung dieses Konflikts hätte zur Vermeidung der Polarisierung beitragen können. „Debatten fördern, trotz allem“, lautet daher eine Erkenntnis der Studienautor•innen – auch wenn Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen und die Geduld mit dem Gegenüber sinkt. Zwar werden die radikalen Ränder damit nicht erreicht, sehr wohl kann aber ein Abrutschen der distanzierten, unentschiedenen oder ängstlichen Mitte in die Wissenschafts- und Institutionenskepsis verhindert werden, so die Wissenschaftler•innen.
Nötige Vielfalt der Perspektiven
Schließlich ist es in Krisen wichtig, vor politischen Entscheidungen die Expertise unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zu berücksichtigen, betonen die Forscher•innen. In der Coronapandemie wurden Virologie und Epidemiologie lange Zeit der Vorrang gegeben. In der Diskussion um offene Schulen waren bildungswissenschaftliche oder kinderpsychologische Aspekte zunächst hingegen von weniger Relevanz. Dem Bildungsministerium gelang es zwar, zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens beizutragen, indem es umfangreiche Testdaten lieferte. Damit konnte der Unterricht wieder vor Ort stattfinden. Zugleich festigte das Ministerium mit dieser Fokussierung auf das Infektionsgeschehen aber die Rolle der Virologie, während andere Perspektiven – wie etwa jene der Bildungswissenschaften – weiter im Hintergrund blieben.
Die Empfehlung der Studie: Beratungsgremien mit Vertreter•innen unterschiedlicher Disziplinen können die Politik von Beginn an auf verschiedene Aspekte einer Krise hinweisen. Das gilt für Pandemien ebenso wie etwa für die Klimakrise.
Training für Politberater•innen
Wissenschaftlichen Beratungsorganen wie der Pandemie-Koordinationsstelle GECKO kommt in Krisen eine Schlüsselrolle zu. Um das Potenzial solcher breit aufgestellten Gremien künftig besser nutzen zu können, empfehlen die Studienautor•innen, trotz des verständlichen Wunsches nach eindeutigen Antworten auf brennende Fragen, Raum für Auseinandersetzung und Dissens zu lassen. Die Wissenschaft kann und soll der Politik nicht die Entscheidungskompetenz abnehmen, sie kann nur Handlungsoptionen aufzeigen.
Um zielgerichtete Politikberatung zu ermöglichen, müssen aber auch Daten der unterschiedlichen Behörden und Ministerien zur Verfügung gestellt werden. Wissenschaftler•innen benötigen zudem Beratungstrainings, bevor sie sich einem solchen Gremium zur Verfügung stellen. Diese Trainings dürfen sich nicht auf das Einüben des sicheren Medienauftritts beschränken. Viel wichtiger ist es, eine klare Vorstellung von der eigenen Rolle im Beratungsprozess, von den eigenen Verantwortlichkeiten und Grenzen zu erhalten. Wissenschaftler•innen müssen außerdem von anderen Aufgaben freigestellt werden, um genügend Zeit aufbringen zu können.
Bürgerdialog „Österreich am Wort“
Der Dialogprozess „Österreich am Wort“ fand im Herbst 2023 mit 319 von der Statistik Austria zufällig ausgewählten, der Struktur der österreichischen Bevölkerung entsprechenden Personen aus allen Bundesländern statt. Der Dialog diente einer vertieften Auseinandersetzung mit der Pandemie und war keine repräsentative Umfrage. Die Bürger•innen entwickelten in Kleingruppen von sechs bis acht Personen 185 Empfehlungen an Politik, Medien und Wissenschaft. Diese wurden analysiert und nach Maßgabe ihrer inhaltlichen Nähe zu 38 Empfehlungen zusammengesetzt. Diese 38 Empfehlungen wurden allen Teilnehmer•innen des Dialogprozesses schließlich zur Bewertung vorgelegt.
Zur Corona-Studie
Die Studie „Nach Corona“ wurde von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung des Soziologen Alexander Bogner durchgeführt. Weitere beteiligte Institutionen: Universität Wien, Zentrum für Soziale Innovation, Institut für Höhere Studien, Medienhaus Wien, Statistik Austria
Die Studie setzt sich aus fünf sozialwissenschaftlichen Fallstudien und einer Beschreibung des Bürgerdialogs „Österreich am Wort“ zusammen.
Fallstudie 1: Polarisierung in Medien und Öffentlichkeit
Fallstudie 2: Zum politischen Umgang mit Zielkonflikten I: Die Impfpflicht
Fallstudie 3: Zum politischen Umgang mit Zielkonflikten II: Distance Learning
Fallstudie 4: Evidenz und Eindeutigkeit – Herausforderungen der Organisation wissenschaftlicher Politikberatung
Fallstudie 5: Wissenschaftsskepsis
„Österreich am Wort“ – Ein Dialogprozess zur Aufarbeitung der Coronakrise
Alle Ergebnisse können im ausführlichen und öffentlich zugänglichen Studienbericht nachgelesen werden.
(Bilder: AdobeStock)