Wie aus der Studie „Angehörigenpflege in Österreich“ hervorgeht, sind rund 950.000 Erwachsene in Österreich von Pflege und Betreuung in der Familie betroffen. Somit kümmern sich rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung entweder zu Hause oder in stationären Einrichtungen um zumindest einen pflegebedürftigen Menschen aus ihrem unmittelbaren Umfeld. Damit bilden pflegende Angehörige eine der tragenden Säulen unseres Pflegevorsorgesystems, sind sie doch Österreichs größter Pflegedienst.
Und Pflege von Angehörigen ist weiblich. Laut Studie beträgt der Anteil der Frauen in der häuslichen Pflege 73 Prozent. Höchste Zeit, zum einen die Arbeit der pflegenden Angehörigen gebühren anzuerkennen. Und zum anderen, dringend notwendige Maßnahmen im Pflegebereich rasch umzusetzen, Stichwort #Pflegereform.
Das bestehende System verbessern
Auch wenn in der Vergangenheit bereits eine Vielzahl an Maßnahmen zur Verbesserung der Situation und Unterstützung von pflegenden und betreuenden Angehörigen ergriffen wurden, so ist es notwendig, das bestehende System zu verbessern und weiterzuentwickeln. In diesem Sinn ist „es besonders wichtig, dass die Rolle der pflegenden Angehörigen in der kommenden Pflegereform gebührend berücksichtigt wird“, sagt Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger. „Sie sind es, ohne deren Unterstützung das Pflegesystem Österreichs nicht auskommen kann.“
Die Pflege von Angehörigen ist eine Tätigkeit, die häufig eine große physische wie psychische Herausforderung bedeutet und damit an die Grenzen der Belastbarkeit führen kann. Umso wichtiger ist es, ihnen Unterstützung anzubieten. Für viele pflegende Angehörige hat die Covid-19 Pandemie zusätzliche Herausforderungen mit sich gebracht, die nun bewältigt werden müssen. „Dass ein solcher Aktionstag an einem Sonntag stattfindet [Anmerkung: am Sonntag, 13. September 2020 war der ‚Tag der Pflege‘], ist außergewöhnlich. Aber gerade pflegende Angehörige und Zugehörige sind diejenigen, die auch am Sonntag für ihre pflegebedürftigen Angehörigen da sind. Sie stellen oft ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurück und verzichten auf eine Auszeit,“ sagt Meinhard-Schiebel.
Maßnahmen in der Pipeline
Aus diesem Grund sieht auch das aktuelle Regierungsprogramm eine Reihe von Maßnahmen vor – wie beispielsweise die Einführung eines pflegefreien Tages, die präventive Entlastung oder Rechtssicherheit für Eltern von Kindern mit chronischer Krankheit bzw. Behinderung. In diesem Sinn meint auch Meinhard-Schiebel, dass es besonders wichtig sei, den Pflegenden regelmäßige Entlastung anzubieten – in Form eines pflegefreien Tags pro Monat. Denn pflegende Angehörige haben keine 40-Stunden Woche, viele von ihnen sind sieben Tage in der Woche 24 Stunden täglich mit der Pflege und Unterstützung ihrer Angehörigen beschäftigt.
Gerade die in letzter Zeit wieder sehr intensiv geführte Diskussion rund um das Thema Pflege verdeutlicht: Pflege ist nicht nur ein Zukunfts- sondern vielmehr ein Gegenwartsthema, das uns alle betrifft. Und Pflege hat viele Facetten – sie ist eine sehr sinnstiftende Tätigkeit, die hohe menschliche Kompetenz erfordert. Sie ist aber auch eine enorme Herausforderung, Stichwort psychische und physische Belastung. Vielen Angehörigen fällt es beispielsweise schwer, sich abzugrenzen und auch manche Hilfestellung anzunehmen oder Aufgaben zu delegieren. Loyalität und Verantwortungsbewusstsein sowie sozialer Druck führen oft zu Überforderung.
Caritas Präsident Michael Landau dazu: „Die Corona-Krise hat uns in den letzten Monaten vor Augen geführt, was wir schon bislang stets betont haben: Das Pflegesystem wäre ohne den unermüdlichen Einsatz von pflegenden Angehörigen als wichtigster Betreuungs- und Pflegedienst der Nation nicht organisierbar.“ In Österreich werden ca. 80 Prozent aller pflegebedürftigen Menschen von Angehörigen und anderen nahestehenden Personen zu Hause betreut und gepflegt. In der Krisenzeit dürfte sich diese Zahl nochmals vergrößert haben.
Darüber hinaus sind Betroffene und Angehörige als Risikogruppen in zusätzliche Isolation geraten, es fehlt an Perspektiven, Kraft und Zuversicht schwinden. „Pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige brauchen außerdem endlich eine funktionierende, kostenlose, dezentrale und rasch verfügbare Testinfrastruktur. Diplomierte Pflegekräfte kennen die familiären Situationen genau, sie können kraft ihrer Ausbildung Testabstriche nehmen und so zur schnellen Gewissheit hinsichtlich Infektion beitragen„, verweist Othmar Karas, Präsident des Hilfswerk Österreich auf die sinnvolle Nutzung vorhandener Kompetenzen mobiler Dienste.
Digitalisierungsfonds für Beratungsangebote
In der aktuellen Krisenzeit fallen viele wichtige Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige, wie etwa psychosoziale Angehörigengruppen oder entlastende Besuchsdienste, weg. Um eine Eskalation der Situation zu verhindern, mussten die aktuellen Angebote daher mitunter angepasst werden. Entlastungsangebote, wie etwa intensivierte telefonische Beratung und Abklärung, Video-Telefonie und ähnliche Hilfsangebote stellen ein wichtiges Auffangnetz für pflegende Angehörige in der Krisenzeit dar.
„Wir brauchen einen Digitalisierungsfonds für die Pflege„, fordert Landau. „Neben der Arbeitsalltagserleichterung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege, können digitale Unterstützungsangebote pflegenden Angehörigen zugutekommen. Außerdem gibt es zahlreiche Technologien, die es ermöglichen können so viel wie möglich daheim und ambulant und so viel wie nötig stationär gepflegt zu werden.“
Doch auch abseits der Krise muss die Situation für pflegende Angehörige durch weitreichende Maßnahmen verbessert werden. „Es braucht eine Finanzierung von flächendeckender Unterstützung und Beratung für pflegende Angehörige österreichweit“, sagt Landau.
Forderungen, die pflegenden Angehörigen zugute kommen
Die Caritas sowie das Hilfswerk Österreich sehen folgende Punkte als erforderlich, um die Situation für pflegende Angehörige langfristig zu verbessern:
- Niederschwellige, kostenlose und umfassende [digitale] Erst-/ Beratungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige in allen Bundesländern durch Pflegefachkräfte und/ oder Sozialarbeiter*innen – sowohl bei Informationsberatung als auch psychosozialer Beratung
- niederschwellige Angebote für fachlich-pflegerisches Coaching
- Unterstützungsangebote unter pflegenden Angehörigen bekannt machen
- verbesserte, unbürokratisch verfügbare Entlastungsangebote für Auszeiten von der Pflege, zur Erholung und zur Wahrung eigener Interessen durch den Ausbau von zeitlich flexiblen mobilen Diensten bzw. den Ausbau bereits bestehender Möglichkeiten der Ersatzpflege
- Rechtsanspruch auf Ersatzpflege – insbesondere in Form eines Anspruchs auf finanzielle Unterstützung bei Urlaub oder Erkrankung des pflegenden Angehörigen
- stundenweise leistbare Betreuungsangebote, Halbtages- oder Ganztagesbetreuung
- Kurzzeitpflege sowie Tageszentren mit flexiblen Öffnungszeiten – auch an Wochenenden und Feiertagen
- Vereinbarkeit von Pflege und Beruf im Sinne eines Rechtsanspruchs auf Pflegekarenz bzw. Pflegeteilzeit für die gesamte mögliche Dauer der Pflegekarenz/ Pflegeteilzeit
- Anerkennung informell erworbener Pflegekompetenzen, das heißt wer sich in der familiären Betreuung und Pflege engagiert hat, soll eine gezielte Unterstützung beim beruflichen Um-/ Einstieg in einen Pflege- oder Betreuungsberuf erhalten.
Bis zu 20.500 neue Arbeitsplätze
„Rund 250.000 Berufstätige, die daheim ein pflegebedürftiges Familienmitglied begleiten, haben es immer schwer, Beruf und private Pflegeaufgaben unter einen Hut zu bringen. Ständig sind sie physischer und psychischer Überforderung ausgesetzt“, weiß auch AK Präsidentin Renate Anderl. In Coronazeiten wird das noch durch die Gefahr einer Ansteckung von sich selbst und den pflegebedürftigen Angehörigen verschärft. Durch beschränkte Sozialkontakte fallen auch Unterstützungen durch Nachbarn und Freunde weg. Auch die 24-Stunden-Betreuung war und ist in Coronazeiten keine verlässliche Stütze. Durch immer wiederkehrende Einreisebeschränkungen war eine Betreuung nicht durchgehend gewährleistet.
Umso wichtiger ist für die AK Präsidentin der Ausbau leistbarer, zeitlich flexibler, mehrstündiger Entlastungsdienste durch professionelle mobile Dienste oder Kurzzeitpflege. Damit können neben der Entlastung der Pflegenden auch bis zu 20.500 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Die Vorteile einer Verdopplung der Leistungsstunden der mobilen Betreuung und Pflege wären:
- Bei einer Verdoppelung von 16,5 Mio. auf 33 Mio. Leistungsstunden bis zum Jahr 2025 könnten rund 20.500 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
- Damit könnten rund 15.000 pflege- und betreuungsbedürftigten Menschen 20 Stunden Pflege und Betreuung pro Woche angeboten werden.
- Pflegenden Angehörigen würde damit die Möglichkeit gegeben, notwendige Pausen und Auszeiten zu nehmen.
- Das Risiko für Überforderung, Burnout und langfristige gesundheitliche Probleme bei pflegenden Angehörigen würde eingeschränkt.
- Die Lücke zwischen Pflegeheim und 24-Stunden-Betreuung könnte so geschlossen werden.
Aktuelle Situation unzumutbar
Schon vor der Krise hat der Rechnungshof im Bericht vom Februar 2020 festgestellt, dass derzeit in Österreich eine betreute Person durchschnittlich nur zwei Stunden pro Woche mobile Dienst in Anspruch nimmt. Bedenkt man, dass eine Person, die Pflegegeld der Stufe 1 bezieht, einen Hilfs- und Betreuungsaufwand von 65 Stunden im Monat hat, ist unschwer zu erkennen, dass sich das mit dem derzeitigen Angebot nie ausgehen kann.
Würden sich alle Pflegegeldbezieher*innen, die zu Hause leben, entscheiden, mobile Dienste in Anspruch zu nehmen, dann stünde derzeit für eine Person nicht einmal eine ganze Stunde pro Woche zur Verfügung. Anderl: „Ein Ausbau ist unumgänglich.“
2020 – das Jahr der Pflege
Das Jahr 2020 wurde ja von der Bundesregierung als „Jahr der Pflege“ ausgerufen. Coronabedingt ist das in den Hintergrund geraten. Allerdings war und ist es gerade auch die Corona-Krise, die uns einmal mehr vor Augen führt, wie wichtig ein funktionierendes, unerschütterliches Pflegewesen ist. Es darf keine Zeit mehr verloren werden. Das Gebot der Stunde lautet, nicht nur über Pflegereformen und einen ‚Pakt gegen die Einsamkeit‘ zu reden, sondern mutig und schnellstmöglich bundesweite Schritte zu setzen.
(Bilder: Pixabay.com, ÖRK/ Nadja Meister, Caritas Österreich/ Michael Appelt, AK/ Sebastian Philipp/ BAK)