Wie muss unser Pflegesystem aufgestellt sein, um die künftigen demographischen Herausforderungen zu meistern? Wie kann eine Kostenexplosion für die öffentliche Hand, sprich Steuerzahler, vermieden werden? Was muss passieren, um die seitens der Regierung im „Masterplan Pflege“ verkündete Stärkung der Pflege zu Hause umzusetzen? Das Hilfswerk Österreich hat das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) mit einer Studie beauftragt, um genau diese Fragen zu beantworten. Die Pflege-Studie untersucht u.a. auch, wie sich – fiktive – Verschiebungen im Versorgungsmix in Zukunft auf Faktoren wie Kostenentwicklung und Personalbedarf auswirken können.
Fokus auf die Pflege zu Hause
„Die österreichische Bundesregierung hat mit ihrem Anfang Dezember präsentierten ‚Masterplan Pflege’ unter anderem einen starken Fokus auf die Pflege zu Hause und die Unterstützung für pflegende Angehörige angekündigt. Als Hilfswerk begrüßen wir diesen Schritt und wollen aufzeigen, welches Potenzial insbesondere mobile Dienste für die Pflege zu Hause und das Pflegesystem insgesamt haben“, erläutert Hilfswerk-Präsident Othmar Karas.
Pflege-Studie beleuchtet die aktuelle Situation in Österreich
In Österreich werden derzeit 84 Prozent aller PflegegeldbezieherInnen zu Hause gepflegt – 45 Prozent davon ausschließlich von Angehörigen (informelle Pflege), 32 Prozent unterstützt von mobilen Pflegediensten wie Hauskrankenpflege, Heimhilfe, mobile Therapie, etc. Eine 24-Stunden-Betreuung wird von fünf Prozent in Anspruch genommen. Zwei Prozent nutzen teilstationäre Einrichtungen wie etwa Tageszentren, rund 16 Prozent werden stationär gepflegt.
Fokus auf Pflege zu Hause ist alternativlos
Der geplante Fokus der Bundesregierung auf die Pflege zu Hause ist aus Sicht des Hilfswerk Österreich angesichts der Wünsche der Menschen und der demografischen Entwicklung alternativlos. Entscheidend für eine qualitativ und quantitativ weiterhin gut funktionierende Pflege zu Hause sind jedoch ein gezielter Ausbau mobiler Dienste wie Hauskrankenpflege und Heimhilfe sowie komplementärer Dienste wie Tageszentren und teilstationärer Angebote.
„Die 24-Stunden-Betreuung ist zweifellos wichtig, wird aber in der Diskussion quantitativ völlig überschätzt. Dagegen werden die mobilen Dienste in ihrer Bedeutung und Funktion für die Pflege und Betreuung zu Hause oft zu wenig wahrgenommen. Mobile Dienste ermöglichen über 30 Prozent der Pflegebedürftigen, die daheim betreut und gepflegt werden, den Verbleib im eigenen zu Hause. Und sie sind ausschlaggebend dafür, ob und wie pflegende Angehörige mit ihren Herausforderungen zurechtkommen“, sagt Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich.
Vielfältige Vorteile mobiler Dienste
Neben den vordergründigen Vorteilen mobiler Dienste – sie ermöglichen es Pflegebedürftigen in den eigenen vier Wänden zu bleiben und sind volkswirtschaftlich das mit Abstand günstigste Pflegesetting – sprechen viele weitere Argumente für den Ausbau dieser Pflegeform.
Mobile Dienste
- entlasten und unterstützen effektiv und professionell pflegende Angehörige
- stärken Selbsthilfepotenziale, aktivieren persönliche und gemeinschaftliche Ressourcen
- sind individuell und bedarfsgerecht gestaltbar
- bieten integrierte und vielfältige Dienstleistung
- sind wirtschaftlich und ressourcenschonend
- schaffen Jobs und Wertschöpfung in der Region
WIFO-Studie: Aktuelle und künftige Versorgungsfunktion der mobilen Pflege- und Betreuungsdienste
Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen wird in den nächsten Jahrzehnten stark steigen und das österreichische Pflegesystem, das bereits heute an seine Grenzen stößt, vor große Herausforderungen stellen. Angehörige werden in Zukunft immer weniger Pflegeleistungen übernehmen können. Gleichzeitig wünschen sich viele Pflegebedürftige, in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Hier kommen die mobilen Dienste ins Spiel:
Die vorliegende Studie des WIFO beleuchtet die derzeitige und künftige sozioökonomische Bedeutung mobiler Pflege- und Betreuungsdienste aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie analysiert die Versorgungsfunktion mobiler Dienste im österreichischen Pflegesystem und zeigt evidenzbasierte Schlussfolgerungen und Handlungsfelder für ein effizientes Pflegesystems auf.
Änderungen im Versorgungsmix beeinflussen die Kostenentwicklung
Die künftigen Nachfrage- und Kostensteigerungen von Pflegedienstleistungen wurden in vier unterschiedlichen Szenarien mittels Projektionsmethoden berechnet. Die Berechnungen der WIFO-Studie gehen dabei von folgendem Hauptszenario aus:
Es werden keine pflegepolitischen Maßnahmen gesetzt, die am Versorgungsmix etwas ändern (indem sie zB durch Förderungen eine Verschiebung in Richtung bestimmter Pflegeangebote bewirken). Dadurch bleibt die prozentuelle Verteilung der betreuten Personen innerhalb der verschiedenen Pflegedienste annähernd so, wie sie im Jahr 2016 (aktuellste vorliegende Zahlen aus der Pflegedienstleistungsstatistik) ist. Aufgrund der zu erwartenden Entwicklungen (demografischer Wandel, Rückgang der informellen Pflege, Verbesserung Gesundheit, Kostensteigerungen) ergibt sich daraus folgendes:
Die Zahl der betreuten Personen über alle Pflegedienste inklusive 24-Stunden-Betreuung hinweg steigt von 285.900 im Jahr 2016 auf 390.700 im Jahr 2030 und auf 622.100 im Jahr 2050. Entsprechend würden die Nettoausgaben von 2,09 Milliarden im Jahr 2016 auf 3,78 Milliarden im Jahr 2030 (+80,7 Prozent im Vergleich zum Jahr 2016) und auf 9,05 Milliarden Euro im Jahr 2050 (+332,5 Prozent gegenüber 2016) steigen.
Wenn nichts gemacht wird, explodieren die Kosten
„Die Ausgabenanstiege, die uns bevorstehen, wenn der Status Quo des Pflegesystems beibehalten wird, verdeutlichen die Dringlichkeit einer ganzheitlichen und langfristigen Pflegestrategie. Es braucht eine gut durchdachte, effiziente Neugestaltung des Pflegesystems, um zu verhindern, dass entweder die Qualität der Leistungen abnimmt, oder die finanzielle Belastung der privaten wie öffentlichen Haushalte kräftig ansteigt“, betont Studienautorin Ulrike Famira-Mühlberger
Drei Möglichkeiten einmal durchgerechnet
Die Studie stellt nun diesem Hauptszenario mögliche fiktive Szenarien gegenüber, in denen durch pflegepolitische Maßnahmen Verschiebungseffekte in unterschiedlichem Ausmaß im Versorgungsmix erreicht werden. Dafür wird jeweils die Zahl der betreuten Personen in der stationären/ mobilen/ informellen Pflege bzw. der 24-Stunden-Betreuung um 5, 10 und 20 Prozent im Basisjahr erhöht und bei den anderen Pflegedienstleistungen abgezogen (die jeweilige Gewichtung wurde nach Abstimmung mit dem Auftraggeber vorgenommen und die Kostenentwicklungen entsprechend projiziert).
Diese Szenarien können erste Anhaltspunkte über mögliche Effekte liefern. Wichtig ist jedoch anzumerken, dass aufgrund der schlechten Datenlage in Österreich wesentliche Einflussfaktoren auf die Kosten dabei nicht berücksichtigt werden können.
Mögliche Szenarien im Vergleich
Nachfolgend werden drei Szenarien gegenübergestellt, in denen jeweils die Zahl der betreuten Personen im stationären Bereich, im mobilen Bereich sowie in der 24-Stunden-Betreuung um 10 Prozent erhöht und die Kostenentwicklung für das Jahr 2030 projiziert wird:
Wird der Anteil der betreuten Personen in der stationären Pflege um 10 Prozent erhöht wird, würde dies die Nettoausgaben für alle Dienste auf 4,035 Milliarden im Jahr 2030 steigern (gegenüber 3,78 Milliarden im Hauptszenario, zusätzliche Ausgaben von 256 Millionen Euro bzw. + 6,8 Prozent). Der Personalbedarf für alle Dienste würde entsprechend um 3.975 Vollzeitäquivalente steigen.
Wird dagegen der Anteil der durch mobile Dienste betreuten Personen um 10 Prozent erhöht, sinken die gesamten Nettoausgaben auf 3,15 Milliarden Euro im Jahr 2030 (gegenüber dem Hauptszenario würden 268 Millionen Euro bzw. -7,1 Prozent gespart. Der Personalbedarf reduziert sich um 4.462 Vollzeitäquivalente.
Steigt der Anteil jener Personen, die 24-Stunden-Betreuung nutzen, um 10 Prozent, bleiben die Kosten nahezu gleich wie im Hauptszenario: Im Jahr 2030 etwa würden die Nettoausgaben um lediglich rund 16 Millionen Euro sinken. Diese Ergebnisse zeigen, dass eine Ausweitung der Förderung der 24-Stunden-Betreuung keine großen Nettoeffekte auf die Entwicklung der Pflegekosten insgesamt hat. „Eine Attraktivierung der 24-Stunden-Betreuung würde zwar zur Entlastung des – teureren – stationären Bereichs führen, aber gleichzeitig zu einem mitunter beträchtlichen Rückgang in der Nachfrage nach – im Vergleich zur 24-Stunden-Betreuung kostengünstigeren – mobilen Diensten. Damit werden die Einsparungen wiederum weitgehend kompensiert“, erläutert Studienautor Matthias Firgo.
Wie Änderungen im Versorgungsmix die Kostenentwicklung beeinflussen können, wird vor allem im direkten Vergleich zweier Szenarien markant: Zielt die Politik mit entsprechenden Maßnahmen darauf ab, die betreuten Personen im stationären Bereich zu erhöhen oder lenkt sie mit geeigneten Förderungen Richtung mobil? Nimmt man auch hier eine jeweils 10-prozentige Erhöhung der betreuten Personen an, ergibt sich eine Kostenschere von rund 524 Millionen Euro für das Jahr 2030.
Das Hilfswerk Österreich fordert daher
- einen innovativen Ausbau mobiler Dienste
- ergänzende Angebote zur Entlastung pflegender Angehöriger
- weniger Bürokratie und bessere Nutzung der Kompetenzen des Pflegefachpersonals
- eine signifikante Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege
- eine differenzierte Ausbildungsoffensive
„Die bevorstehende demographische Entwicklung bringt Österreichs Pflegesystem unweigerlich an seine Grenzen. Wer nach Lösungen sucht, um eine Explosion der Kosten und eine weitere Verschärfung der Personalsituation zu verhindern, kommt um mobile Pflege- und Betreuungsdienste nicht herum. Nur eine Forcierung mobiler Dienste im Versorgungsmix kann den Kostenanstieg dämpfen und den Personalbedarf im Rahmen halten“, betont Othmar Karas abschließend.
Service
Die gesamte Studie können sie HIER als Pdf downloaden.
(Bilder: Hilfswerk Österreich; Grafiken: Hilfswerk Österreich)