Das Thema Pflege von vor allem älteren Menschen wird seit Jahren heiß diskutiert. Dabei geht es jedoch ausschließlich um die Frage, wie die Pflege körperlich Kranker gewährleistet werden kann. Wie aber sieht es mit der Pflege von Menschen aus, die unter psychischen Problemen leiden, Stichwort psychosoziale Pflege? Diese Menschen stellen eine stark benachteiligte Gruppe dar. Auch hier sind vor allem ältere Menschen betroffen – Demenz, Depressionen und Wahnvorstellungen treten gerade in höherem Alter vermehrt auf. Außerdem erreichen aufgrund des medizinischen Fortschrittes chronisch psychisch kranke Menschen ein höheres Lebensalter.
Da diese Erkrankungen aber nicht den Richtlinien zur Zuerkennung von Pflegegeld entsprechen, erhalten die Betroffenen keine finanzielle Unterstützung. Das gegenwärtig in Österreich etablierte Pflegesystem bietet Hilfe und Unterstützung nur bei körperlichen Leiden. Vor allem ältere Menschen mit psychischen Problemen benötigen jedoch psychiatrische „Pflege“, sprich Betreuung durch multiprofessionelle Betreuungsteams zuhause, um ihr Leben in den eigenen vier Wänden fortführen zu können. pro mente Austria fordert daher, die sozialpsychiatrische Pflege und Betreuung der Pflege körperlicher Erkrankungen gleichzustellen.
Pflege in den eigenen vier Wänden
In der derzeit intensiv geführten Diskussion um die Pflege vorwiegend von älteren Menschen geht es in erster Linie darum, ihnen eine menschenwürdige und hochwertige Unterstützung zu bieten. „Und ihnen zu ermöglichen, in den eigenen vier Wänden weiterleben zu können. Betroffene und Angehörige müssen dabei nachhaltig unterstützt und gestärkt werden„, so pro mente Austria-Präsident Dr. Günter Klug. „In der gegenwärtigen Diskussion kommt aber die sozialpsychiatrische Pflege und Betreuung zuhause einfach nicht vor. Der Begriff ‚Pflege‘ wird auf rein körperliche Bedürfnisse beschränkt verstanden. Dabei ist sozialpsychiatrische Pflege und Betreuung für die Betroffenen und ihre Angehörigen von mindestens ebenso existentieller Bedeutung wie die körperliche Pflege!„
Pflege erfolgt immer seltener durch Angehörige
Hintergrund zur aktuellen Diskussion ist, dass die Zahl der älteren Menschen in Österreich stark ansteigend ist. Der Anteil der über 60 Jährigen in der Gesamtbevölkerung wächst von 1991 bis 2030 von 20 auf 32 Prozent [1, 2] und wird noch weiter steigen. Besonders die Gruppe der Höchstaltrigen wird am stärksten wachsen, die über 75 Jährigen in diesem Zeitraum um mehr als ein Drittel, der Anteil der über 90 Jährigen wird sich bis 2050 vervierfachen [3].
Gleichzeitig kommt es zu Veränderungen in unserer Gesellschaft durch steigende Frauenbeschäftigung, mehr Single-Haushalte [besonders auch bei Älteren], weniger Kinder etc. Das bedeutet, dass der Anteil der sogenannten „informellen“ Pflege alter Menschen durch Angehörige zuhause sinkt. Klug: „Damit steigt aber die Quote jener, die auf öffentliche Betreuungsleistungen angewiesen sind, noch zusätzlich zum bestehenden Altersanstieg.[4] Daraus ergibt sich der jetzt erkannte immense Handlungsbedarf.“
Psychische Probleme im Alter weit verbreitet
Rund 25-30 Prozent der Menschen über 65 leiden an psychiatrischen Erkrankungen und Problemstellungen. Dies hat vor allem damit zu tun, dass viele Menschen heutzutage mit bereits bestehenden psychiatrischen Erkrankungen – im Unterschied zu früher – durchaus ein hohes Alter erreichen. Gleichzeitig treten aber auch altersspezifische Erkrankungen wie Demenz, Depression und Wahnerkrankungen im Alter neu auf.
Nur ein kleiner Teil dieser Menschen lebt in Pflegeheimen, 70-80 Prozent leben unabhängig zuhause. Sie werden in unterschiedlicher Intensität von ihren Angehörigen versorgt, in vielen Fällen haben sie aber keinen Zugang zur psychosozialen bzw. sozialpsychiatrischen Versorgung. Klug betont: „Diese Menschen stellen eine stark benachteiligte Gruppe dar. Denn für sie gibt es so gut wie keine institutionelle Hilfe! Das gegenwärtig in Österreich etablierte Pflegesystem bietet Hilfe und Unterstützung nur bei körperlichen Leiden. Daher müssen dringend gesetzliche Regelungen geschaffen werden, die es auch psychisch kranken Menschen ermöglicht, die Unterstützung zu erhalten, die sie benötigen.“
Pflegegeld orientiert sich rein an körperlichen Bedürfnissen
Das Pflegegeld orientiert sich nur an den körperlichen Bedürfnissen. „Sobald ein alter Mensch Probleme mit dem Anziehen, der Körperhygiene, dem Einkauf, dem Gehen etc. hat, wird das in notwendige Betreuungsstunden umgelegt, woraus sich die Höhe des zuerkannten Pflegegeldes ergibt. Dieses System ist jedoch für Menschen mit psychisch-psychiatrischen Einschränkungen völlig ungeeignet, da sich der Unterstützungsbedarf von Menschen mit psychischen Erkrankungen weitgehend von dem körperlich Kranker unterscheidet„, betont Klug.
Wenn ein Mensch zum Beispiel mit Demenz Aufsicht braucht, ist das ebenso wenig erfasst wie die völlige Energielosigkeit einer schwer depressiven Person, die zwar zur Körperhygiene fähig wäre, aber die Energie nicht aufbringen kann. Diese Menschen erhalten jedoch kein Pflegegeld, da die bestehenden Kriterien nicht auf sie zutreffen. Klug: „Daher ist es dringend erforderlich, eine Einstufungsgrundlage für das Pflegegeld bei psychischer Betroffenheit zu schaffen, die die psychischen Einschränkungen berücksichtigt und nicht nur körperliche Defizite gelten lässt.“
Leid, hohe Kosten und Tod als Folgen psychiatrischer Unterversorgung
Die Vernachlässigung der Versorgung von psychisch kranken Menschen führt dazu, das medizinische, soziale und Probleme mit der Selbstständigkeit massiv zunehmen. Daraus ergibt sich eine extreme Belastung der Angehörigen, eine mit hohen Kosten verbundene intensivere Nutzung des Gesundheitssystems, mehr kostenintensive Krankhaus- und Pflegeheimaufenthalte und eine erhöhte Sterblichkeit.[5, 6, 7]
Und wie sollte eine alterspsychiatrische mobile Versorgung bzw. psychosoziale Pflege aussehen?
Analog zu den mobilen Diensten, die Pflege und Unterstützung für körperlich Kranke auf unterschiedlichen Leistungsniveaus [von der Heimhilfe bis zu diplomierter Pflegekraft] anbieten, sollten auch im sozialpsychiatrischen Bereich mobile Teams zum Einsatz kommen, die Versorgung und Unterstützung auf verschiedenen Niveaus anbieten. Klug: „Die Versorgung der Menschen sollte durch ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Psycholog•innen, Sozialarbeiter•innen, psychiatrischen Pflegekräften und einem Psychiater bzw. einer Psychiaterin erfolgen.“
Neben der Unterstützung bei Problemen im Alltag geht es darum, den Menschen im Rahmen einer therapeutischen Beziehung zu helfen und sie im Bedarfsfall psychiatrisch zu versorgen. Ganz wichtig ist bei diesen Menschen der Beziehungsaufbau. Klug: „Da bei psychisch kranken Menschen der Effekt über Beziehung und Gespräch erfolgt, wird hier auch eine andere Zeitbemessung benötigt. Das bedeutet aber nicht einen unbegrenzten Aufwand, da sich dieser, wenn das System einmal etabliert ist, abgesehen von Krisen, in durchaus vertretbarem Ausmaß bewegt.“
Abschließend fasst der pro mente Austria-Präsident zusammen: „Es ist gar nicht notwendig, das Rad neu zu erfinden! Es gibt bereits einige gute, bewährte Pilotmodelle zur psychiatrischen Pflege in Österreich, die zeigen, wie es funktioniert. Nun müssen die entsprechenden gesetzlichen Regelungen und Voraussetzungen geschaffen werden, um, analog zu den mobilen Diensten im Bereich der körperlichen Pflege, Österreichweit mobile Dienste zur [alters-]psychiatrischen Pflege und Betreuung zu schaffen.“
Über pro mente Austria
pro mente Austria ist der Dachverband von 24 gemeinnützigen Organisationen, die in Österreich im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind. Ziel von pro mente Austria ist es, das Leben und die Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen nachhaltig zu verbessern und sie und ihr soziales Umfeld zu unterstützen und zu stärken. Das Angebot der 24 Mitgliedsorganisationen von pro mente Austria ist breit gefächert. Sie betreuen Österreichweit mit 4.000 Mitarbeiter•innen jährlich rund 80.000 Menschen mit psychischen oder psychiatrischen Problemen bzw. Erkrankungen.
Literatur | Quellennachweis
[1] Klug Neuropsychiatrie 2004
[2] Badelt CH, Holzmann A, MAtul Ch, Österle A. Kosten der Pflegeversicherung. In: Badelt Ch (Hrsg): Strukturen und Entwicklungen der Altenbetreuung. Böhlau Wien Köln Weimar 1995
[3] Berner J, Krautgartner M, Wancata J. Krankenbestände und Neuerkrankungen von Demenzkranken in den österreichischen Bundesländern in den Jahren 2000 bis 2050. Gemeindenahe Psychiatrie , 22(1), 2001, 14-32
[4] Famira-Mühberger U., Frigo M. Wifo auf Basis Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2016(Hauptvariante) sowie realisiertem Wert für die Bevölkerung im Jahresdurchschnitt 2016 Werte ab 2017 Prognose. Wifo 2017
[5] Bruce ML, Van Citters AD, Bartels SJ. Evidence-based mental health services for home and community. Psychiatr Clin N Am, 2005; 28, 1039-60
[6] Klug G, Hermann G, Fuchs-Nieder B, Panzer M, Haider-Stipacek, Zapotoczky HG, Priebe St.Effectiveness of home treatment for elderly people with depression: randomised controlled trial. BJPsych 2010 197, 463-467
[7] Klug G, Gallunder M, Gerhard G, Singer M, Schulter G. Effectiveness of multidisciplinary psychiatric home treatment for elderly patients with mental illness: a systematic review of empirical studies. BMC psychiatry.(2019) 19:382, https://doi.org/10.1186/s12888-019-2369-z
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