Eine aktuelle Studie liefert erstmals fundierte Daten zur hohen Anzahl an Pflegekräften, die unter dem „Second Victim“-Phänomen leiden. Rund 82 Prozent der befragten Pflegekräfte identifizieren sich selbst als „Second Victim.“ Das bedeutet, dass sie nach einem unerwarteten kritischen Vorfall unter emotionalem oder psychologischem Stress leiden. Dazu zählen vor allem aggressives Verhalten von Patientinnen und Patienten [37,43 Prozent] und unerwartete Todesfälle und Suizide von Patient•innen [24,02 Prozent].
Auch im internationalen Vergleich sehr hohe „Second Victim-Werte“
Gewalt gegen Pflegekräfte erweist sich als signifikanter Faktor, der erhebliche negative Auswirkungen auf das persönliche und berufliche Wohlbefinden der Befragten hat. Dazu gehören verbale Beleidigungen, körperliche Gewalt und sexuelle Belästigung, die zu erhöhtem Arbeitsstress, und höheren Fluktuationsraten im Kollegium führen. In Österreich könnte die hohe Anzahl an gewaltvollen Vorfällen gegenüber Pflegekräften teilweise die erschreckende Rate an Betroffenen erklären.
Die alarmierende Prävalenz von Second Victims unter österreichischen Pflegekräften könnte außerdem durch MNC [Missed Nursing Care] erklärt werden: wenn Pflegehandlungen wegen Zeitdruck oder Personalmangel ausgelassen oder verspätet durchgeführt werden zu müssen. „Die Ergebnisse unserer Studie sind alarmierend, auch im Vergleich zu internationalen Umfragen liegen die Werte sehr hoch, wir sehen jetzt einen großen Handlungsbedarf“, sagt Victoria Klemm BSc., vom Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety [WiHelP].
Besonders betroffen sind weibliche Pflegekräfte, die von einer höheren Symptomlast als ihre männlichen Kollegen berichten. Auch junge Pflegekräfte sind stärker von Symptomen betroffen als länger im Berufsfeld tätige Kolleginnen und Kollegen. Zu den am häufigsten genannten Symptomen zählen Schlaflosigkeit, das Wiedererleben des Vorfalls in ähnlichen beruflichen Situationen und psychosomatische Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen.
1.000 Pflegekräfte befragt
Der Verein „Second Victim“ führte mit dem Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety [WiHelP] in Kooperation mit dem Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband [ÖGKV] eine Erhebungsstudie zur Häufigkeit des Second Victims Phänomen unter österreichischen Pflegekräften durch. Insgesamt haben fast tausend Befragte an der Umfrage teilgenommen. Der überwiegende Teil war weiblich [~80 Prozent], mehrheitlich zwischen 31 und 50 Jahren [~60 Prozent] alt und zwischen 11 und 30 Jahren im Pflegebereich tätig.
Unterstützt wurde die Präsentation der Studie von der Wiener Städtischen Versicherung, die sich seit langem im Pflegebereich engagiert: „Unser Haus setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, die Bedeutung des Pflegeberufs zu stärken, denn Pflege wird in den kommenden Jahren das dominierende gesellschaftspolitische Thema werden. Es ist es unsere Verantwortung, darauf aufmerksam zu machen“, sagt Mag.a Sonja Brandtmayer, Generaldirektor-Stellvertreterin der Wiener Städtischen.
Peer Support als Hilfe
Betroffene gaben an, das Erlebte aufarbeiten zu wollen, um die Situation besser verstehen zu können [~50 Prozent]. 92,47 Prozent derjenigen, die nach Symptomen Hilfe in Anspruch nahmen, wandten sich an ihre Kolleg•innen. Dies zeigt die zentrale Rolle, die Peer-Unterstützung für das Wohlbefinden von Pflegekräften spielen kann. Second Victims würden zudem Richtlinien für die Aufarbeitung von schwerwiegenden Ereignissen und eine Fallanalyse zur zukünftigen Prävention als hilfreich empfinden.
In Summe zeigen die Ergebnisse der SeViD A2 Studie im Vergleich mit der vorrangegangenen nationalen Studie – SeViD-A1-Studie: Prävalenz des Second-Victim-Phänomens unter österreichischen Kinderärzt•innen – ein ähnliches Bild. Die Ergebnisse dieser Studien unterstreichen die Bedeutung der Implementierung wirksamer Unterstützungssysteme, um die weitreichenden Auswirkungen des Phänomens im Gesundheitswesen zu bewältigen.
Lösungsansätze und Empfehlungen
Die Ergebnisse der SeViD-A2-Studie verdeutlichen die dringende Notwendigkeit für systematische organisatorische Unterstützungsmaßnahmen wie Peer Support Systeme, Deeskalationstrainings und Kommunikationstrainings. Der Aufbau solcher Strukturen könnte langfristig zur Verbesserung des Wohlbefindens von Pflegekräften und zum Verbleiben im Beruf beitragen.
„Mit der Studie zeigen wir auf, dass wir dringend das Fachpersonal im österreichischen Gesundheitswesen unterstützen müssen, um eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen. Darüber hinaus liefern wir auch konkrete – auf Daten basierende – Lösungsansätze“, so Dr.in Eva Potura, Second Victim.
Hintergrundinformationen
Der Verein Second Victim wurde 2021 von Ärztinnen und Ärzten gegründet und beschäftigt sich damit, ob und wie Mitarbeiter•innen im Gesundheitswesen nach schwerwiegenden und kritischen Ereignissen psychosozial unterstützt werden können. Deswegen forscht der Verein zusammen mit seinen Partner•innen zu diesem Thema, um die Häufigkeit und Folgen des Phänomens darzustellen.
Der Begriff Second Victim wird als eine mögliche Beeinträchtigung einer Fachkraft im Gesundheitswesen nach einem unerwünschten oder schwerwiegenden Ereignis definiert.
HIER finden sie das Preprint der SeViD A-2 Studie
(Bilder: AdobeStock)