Vor wenigen Tagen präsentierte das Sozialministerium den von der Gesundheit Österreich GmbH [GÖG] verfassten Bericht der im Vorjahr eingesetzten Taskforce Pflege. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt [BAG], der Zusammenschluss Österreichs großer Sozialorganisationen Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe, zollt dem umfangreichen Kompendium Anerkennung als konstruktive und breite Ergebnissammlung des mehrstufigen Beteiligungsprozesses im Vorfeld, an dem sich zahlreiche ExpertInnen und Stakeholder des Pflegesektors beteiligt haben. Viele der Vorschläge werden positiv bewertet, manches wird kritisch gesehen. Vor allem aber weist man auf die ausständige politische Entscheidungsfindung hin.
„Das wesentliche Verdienst des vorliegenden Berichts der Taskforce Pflege ist es einerseits, die Komplexität der Reformaufgabe vor Augen zu führen, und andererseits, eine Fülle konstruktiver möglicher Ansatzpunkte dafür aufzuzeigen,“ meint Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich und derzeit Vorsitzende der BAG. „Nun gilt es, die Agenda politisch zu bewerten, in ein abgestimmtes Reformprogramm zu gießen und einer effektiven Umsetzung zuzuführen,“ meint Anselm. Die notwendigen politischen Entscheidungen stehen laut BAG noch aus. Die Zeit drängt jedoch – insbesondere mit Blick auf die Herausforderungen im Bereich des Personals, aber auch mit Blick auf die Situation der Betroffenen und Angehörigen.
Pflege muss „zu den Menschen kommen“, mobile Dienste müssen ausgebaut werden
„Um auch in Zukunft zu Hause alt werden zu können, muss die Pflege, wo immer möglich, zu den Menschen kommen. Der im Bericht der Taskforce Pflege geforderte Ausbau der mobilen Pflege und Betreuung ist daher ein wichtiger und notwendiger Schritt. Es braucht verstärkt Angebote, die die Betreuung in der gewohnten Umgebung möglich machen. Dazu ist es auch wichtig, die Gesundheitskompetenz der Menschen zu stärken und pflegende Angehörige mit niederschwelligen, leistbaren und flexiblen Betreuungsangeboten zu entlasten,“ sagt Michael Opriesnig, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes.
Konkrete Maßnahmen gegen Einsamkeit mit Caring Communities + Freiwilligenstrukturen
Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich, sieht positiv, dass sich ein eigenes Kapitel des Berichts der Taskforce Pflege den notwendigen Maßnahmen gegen die steigende Einsamkeit widmet: „Schon vor der Krise war Einsamkeit eine Zivilisationskrankheit. Die Förderung des freiwilligen Engagements durch Koordinatoren sowie der Ausbau der Freiwilligenstruktur inklusive entsprechender Finanzierung sind daher wichtige Eckpfeiler. Wir freuen uns, dass auch die Empfehlung aus dem ‚Pakt gegen die Einsamkeit‘ der Caritas, einen Regierungsbeauftragten für das Thema einzusetzen, zur Umsetzung kommt. Die Erfahrung zeigt uns, dass Einsamkeit alle Altersgruppen betrifft. Daher wünschen wir uns, dass die Maßnahmen nicht nur auf ältere Menschen fokussieren, sondern beispielsweise mit steigender Umsetzung von Caring Communities, alle Menschen erreicht werden.“
„Das Strategiepapier der Taskforce Pflege, stellt eine gute Zusammenfassung der Themen dar, die es durch eine umfassende Pflegereform zu lösen gilt,“ so Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich in einer ersten Reaktion: „Das erneute klare Bekenntnis zum Ausbau unterschiedlicher Pflege- und Betreuungsangebote, das die Bedürfnisse der Betroffenen ernst nimmt und in den Fokus stellt, ist ein wichtiger Ausgangspunkt für ein Pflegesystem mit Zukunft. Dass Einsamkeit als neue Not unserer Zeit entschieden und systematisch entgegengewirkt werden soll, halten wir – gerade in Zeiten der Corona-Pandemie – für ein Gebot der Stunde.“
Aktive Arbeitsmarktpolitik zur Schließung der Personallücke + Nutzung der Jobchancen
Der Bericht der Taskforce Pflege sei eine gute Grundlage für die dringend notwendige Pflegereform, meint auch Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich. Jetzt brauche es einen konkreten Umsetzungs- und Maßnahmenplan, der auch mit Investitionszahlen zu versehen sei. „Die Herausforderungen liegen auf dem Tisch. Um den Personalbedarf der Zukunft zu decken, brauchen wir einen großen Wurf. Das bedeutet eine stetige Verbesserung der Arbeitsbedingungen, aber vor allem eine aktive Arbeitsmarktpolitik, damit Um- und WiedereinsteigerInnen eine Ausbildung für den Pflege- und Betreuungsbereich finanziell ermöglicht wird. Die Ideen liegen auf dem Tisch, wir müssen in die Umsetzung kommen, um die enormen Jobchancen in diesem Bereich zu nutzen,“ fordert Fenninger.
Auch das Hilfswerk bezeichnet die Personalfrage als „Herzstück“ der Pflegereform. „Wenn es uns nicht gelingt, genügend Menschen für die Pflege- und Betreuungsberufe zu gewinnen, bleibt die Reform Makulatur. Denn: ohne Personal keine Pflege„, bringt Anselm das Thema auf den Punkt. Wichtig sei laut Anselm jedenfalls, dass man angesichts des Bedarfs auf eine möglichst große Vielfalt von Wegen in den Pflegeberuf setze. Das wäre bereits im türkis-grünen Regierungsprogramm angelegt, wo neben der Implementierung von Pflegeausbildungen in Berufsbildenden Höheren Schulen auch ein dualer Zugang zum Berufsfeld in Form einer Lehre für die Pflegeassistenz festgeschrieben sei – mit altersspezifischem Curriculum und guter horizontaler sowie vertikaler Durchlässigkeit im Berufsfeld.
Entlastung pflegender Angehöriger, effektivere und sozialraumorientierte Unterstützung
Vier von fünf der 455.000 Pflegegeld-Beziehenden werden zu Hause versorgt, und weniger als die Hälfte der pflegenden Angehörigen erhalten Unterstützung von sogenannten „formellen“ Diensten. „Pflegende Angehörige sind eine wesentliche Säule, die unser Pflegesystem trägt. Sie brauchen dringend Unterstützung, zumal mehr als die Hälfte davon bereits selbst über 60 Jahre alt ist,“ betont Diakonie Direktorin Maria Katharina Moser.
„Auf der einen Seite müssen neue passende Betreuungsangebote geschaffen, sowie sozialraumorientierte Dienste und Tageszentren ausgebaut werden. Nur dann können Menschen, die zu Hause leben möchten, auch gut zu Hause leben. Und auf der anderen Seite sind neue Wohnformen gefragt, wie wir sie in der Diakonie entwickeln,“ so Moser.
„Aufblähung der Pflegebürokratie“ hilft Betroffenen und Angehörigen nicht weiter!
Sorgen bereiten den VertreterInnen der BAG jene Vorschläge im Bericht der Taskforce Pflege, die auf eine Tendenz zur Aufblähung der Verwaltung rund um die Pflege und Betreuung schließen lassen. Die Vorschläge zu Case Management, Pflege-Lotsen und Community Nurses seien sicher mit guter Absicht formuliert worden, aber man müsse dringend darauf achten, dass man hier nicht auf falsche Wege gerate, meint die BAG. Es müsse in jedem Falle um die Etablierung nutzenstiftender Dienstleistungen und Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige gehen, keinesfalls aber um die Schaffung von Parallelstrukturen, die wertvolles Fachpersonal abziehen und den bürokratischen Aufwand erhöhen.
„Jede weitere Schnittstelle bringt mehr Abstimmungsbedarf, mehr Dokumentationsbedarf – und damit ein Mehr an Tätigkeiten, die die Pflege von den Betroffenen und Angehörigen entfernen, und überdies unsere Fachkräfte zermürben und frustrieren. Die verfügbaren Ressourcen müssen im Sinne der Effizienz und des Nutzens für die Betroffenen direkt in die Dienste am Menschen investiert werden,“ erläutert Elisabeth Anselm.
Zukunft braucht Pflege. Pflege braucht Zukunft.
Momentan beobachtet die Caritas in ihrer täglichen Arbeit, speziell in den mobilen Pflegeangeboten und in der Beratung und Begleitung von pflegenden Angehörigen, eine starke Orientierung an den Defiziten bei der Pflegegeldeinstufung. Landau: „Es ist wichtig, dass die Betroffenen so lange wie möglich zu Hause, in ihrer gewohnten Umgebung leben können, weil sie sich das auch wünschen. Um das zu gewährleisten, ist die Weiterentwicklung des Pflegegeldes hin zu einer individuellen, multiprofessionellen Bedarfseinschätzung unter Einbeziehung von Pflegekräften, Angehörigen und Betroffenen notwendig.“
Leider gänzlich unerwähnt bleibt der niederschwellige Zugang zu Pflegeleistungen etwa über die eCard. Zukünftig müssen auch die besonderen Belastungen und Einschränkungen, die beispielsweise mit einer demenziellen Erkrankung einhergehen, aus Sicht der Caritas stärkere Berücksichtigung bei der Einstufung des Pflegegeldes finden. Eine etwaige Erhöhung der Erschwerniszulage wäre dazu ein erster, aber nicht ausreichender Schritt.
Finanzierung für Pflege sichern und weiterhin ExpertInnen einbeziehen
Das Bekenntnis zum flächendeckenden Ausbau – auch mobiler – Palliativ- und Hospizdiensten sowie die dringend anstehende Überführung dieser in eine österreichweit einheitliche kostendeckende Regelfinanzierung wurde erneuert. Das gibt Hoffnung, dass es hier endlich zu einer tragfähigen, österreichweiten Lösung kommen wird. Darüber hinaus muss das Pflegesystem langfristig finanziell abgesichert werden, beispielsweise durch eine Unbefristetheit des Pflegefonds.
Offen bleibt leider einmal mehr ein konkreter Zeitplan, also wann und wie konkret die nächsten Schritte geplant sind. Wichtig wird es jedenfalls sein, weiterhin alle Stakeholder einzubinden, damit die Erfahrungen aus der Praxis berücksichtigt werden können.
(Bilder (v.o.n.u.): Pixabay.com, OeRK/ Nadja Meister, Diakonie/ Simon Rainsborough, Caritas/ Michael Appelt)